Günter Schabowskis unfreiwillige Sternstunde

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9. November 1989. Die Pressekonferenz des Ostberliner Politbüro-Sekretärs verhieß die übliche Fadesse. Um 18.53 Uhr fällt eher nebenbei die Mitteilung, dass die Berliner Mauer geöffnet sei – die Welt hält kurz den Atem an.

Günter Schabowski (heute 85) hat sich unabsichtlich in die europäische Geschichte eingeschlichen. Der kommunistische Funktionär, einstmals HJ-Unterführer, hatte es mit dem Journalismus. Und der sollte letztlich auch sein Schicksal werden. In Leipzig zum Diplomjournalisten graduiert, in Moskau an der Parteihochschule fortgebildet, brachte er es schon 1978 zum Chefredakteur des Zentralorgans der Einheitspartei SED, „Neues Deutschland“.

Und so war sein weiterer Aufstieg in die obersten Ränge der Parteihierarchie nur eine Frage der Zeit. 1985, als neuer Parteichef von Berlin-Ost (nach einer schlauen Intrige gegen den bisherigen Amtsinhaber), machten ihn die Genossen zum Herrn über Journalisten und Schriftsteller. Schabowski war ganz oben: im Politbüro des ZK der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands mit Erich Honecker an der Spitze. Schabowski: Ein umgänglicher, moderner Mittler zu den westlichen Medien – so schien es. Im Innenleben der DDR aber einer der Schlimmsten, wie sich Christa Wolf erinnerte.

Noch am 8. November 1989 plädiert Genosse Schabowski vor dem Zentralkomitee für eine schärfere Gangart gegenüber den Medien. Doch zwei Tage später wird alles ganz anders kommen.

Ein Zettel für Schabowski

Erich Honecker ist schon gestürzt, damit will das Regime die brodelnde DDR noch im Kern retten. Das verzweifelte Politbüro entschließt sich zu einer vereinfachten Ausreisemodalität für seine eingesperrten Bürger, das soll am 10. November in Kraft treten. Mit Formularen natürlich, unter gleichzeitiger Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft.

Schabowski ist bei dieser ZK-Sitzung am 9. November nur teilweise anwesend. Bevor er vor die internationalen Journalisten tritt, gibt ihm der neue Machthaber Egon Krenz einen Zettel mit auf den Weg: „Nimm das gleich mit, das wird ein Knüller.“ Die neuen Reiseregelungen. Schabowski steckt das Papier achtlos ins Jackett. Er eilt ins Pressezentrum, wo er im Stiegenhaus fast einen Wiener Journalisten umrempelt: Ewald König.

Eigentlich wollten alle schon gehen

Der ist seit 1977 für die „Presse“ in Bonn und Berlin akkreditiert. Eigentlich will König das überfüllte Pressezentrum in der Mohrenstraße gerade wieder verlassen, weil die Tagesordnung öde klingt: „Sitzung des Zentralkomitees.“ Was soll da schon Berichtenswertes sein? König ist übermüdet, weil er seit Tagen über die Flüchtlinge berichtet, die über Prag und Budapest in den Westen strömen. Nun folgt er als Schabowski doch wieder in den Saal. Es sollte sein längster Tag werden.

Schabowski fängt an wie befürchtet. Im ZK gebe es großes Bedürfnis, sich zur Erneuerung der Parteipolitik und den Gründen hierfür zu äußern; . . . deren Ton sei kritisch und selbstkritisch . . . Das ZK habe damit ein bedeutendes Zeichen gesetzt für seinen Anspruch auf die Führungsautorität der Partei, bla, bla, bla . . .

Dann, um 18.53 Uhr, schlägt Riccardo Ehrmanns Sternstunde: Der italienische Korrespondent darf eine Frage stellen. „Sie haben von Fehlern gesprochen. Glauben Sie nicht, dass er ein großer Fehler war, dieser Reisegesetzentwurf, den Sie vorgestellt haben vor wenigen Tagen?“

„ . . . das ist sofort, unverzüglich“

Schabowski erinnert sich an den Zettel und nestelt ihn aus der Jackentasche heraus. Er stottert herum, bringt keinen vollständigen Satz heraus. Schon wie er kompliziert anfängt: „Aus dem Entwurf des neuen Reisegesetzes wird der Passus herausgenommen und in Kraft treten, also die ständige, wie man so sagt, die ständige Ausreiseregelung, also das Verlassen der Republik“, und so weiter. „Allerdings ist heute, so viel ich weiß, eine Entscheidung getroffen worden, und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“

Der überfüllte Saal ist elektrisiert. Als Schabowski die verblüffte Reaktion bemerkt, fügt er nach kurzer Pause der Ratlosigkeit hinzu: „Also ich weiß nicht, mir ist mitgeteilt worden, dass eine solche Mitteilung heute schon verbreitet wurde. Sie müsste eigentlich schon in Ihrem Besitz sein.“

Die konkrete Nachfrage kommt vom „Bild“-Mann Peter Brinkmann aus der ersten Reihe: „Ab wann tritt das in Kraft? Ab sofort?“ Schabowski: „Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich.“ Und er fährt mit der Dienstlimousine heim in die Promi-Siedlung Wandlitz.

Da weit hinten stehend, rennt König als einer der Ersten aus dem Saal, hinunter ins Erdgeschoß zu den Telefonzellen. Die Telefonistinnen versuchten, nach Wien durchzukommen, keine Chance. Stundenlang nicht.

Das Telefonnetz bricht zusammen

Die DDR-Agentur ADN verbreitet den von Schabowski verlesenen Text um 19.04 Uhr, der dann um 19.30 Uhr von der „Aktuellen Kamera“ im DDR-TV und um 20 Uhr von der Tagesschau mit der Meldung „DDR öffnet Grenze“ gesendet wird. Die letzten Minuten der Berliner Mauer: zunächst am Grenzübergang Bornholmer Straße. Dort hat Oberstleutnant Harald Jäger Dienst. Schon gegen 20.30 Uhr treffen die ersten DDR-Bürger am Grenzübergang ein. Der ist aber weiterhin für DDR-Bürger ohne gültiges Visum geschlossen. Gegen 21 Uhr fordert die Menge die Öffnung der Grenze. Die Situation spitzt sich zu, die Grenzsoldaten haben keinen Befehl zur Öffnung der Grenze erhalten und die Menge vor dem Grenzübergang ruft: „Tor auf! Tor auf!“ Harald Jägers Vorgesetzte antworten nicht.

„Ich lasse die Leute raus“

Um 22.30 Uhr ruft Jäger wieder an und ruft: „Es ist nicht mehr zu halten. Wir müssen den Schranken aufmachen. Ich stelle die Kontrollen ein und lasse die Leute raus.“

Wenig später geben auch die Offiziere der anderen Grenzübergangsstellen dem Druck nach und öffnen die Gitter und Schranken. Um zwei Uhr früh sind alle Grenzübergänge der Stadt geöffnet. Zehntausende DDR-Bürger können in dieser Nacht erstmals seit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 den Westteil der Stadt wieder frei betreten.

Spät nachts bekommt Ewald König im Pressezentrum wie zum Hohn eine Nachricht ausgehändigt: Die Redaktion in Wien bittet dringend um Rückruf! Da hat sie schon eine Sonderausgabe für den Raum Wien aus dem Boden gestampft . . .

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2014)

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