Der US-Finanzminister warnt vor einer „verlorenen Dekade“ für Europa. Zu Recht. Aber was er fordert, ist falsch – so wie Brüssels 300-Milliarden-Show.
Manche Agenturmeldungen müssen wir Journalisten zweimal lesen, um sie zu glauben. So wie am Donnerstag: „US-Finanzminister ruft EU zu stärkerem Wirtschaftswachstum auf.“ Du unglückliches Europa, wachse, sonst machst du uns Amerikanern unseren schönen Aufschwung kaputt! Mit ähnlicher Aussicht auf Erfolg könnte man ein zu klein geratenes Kind zu mehr Körperlänge ermuntern.
Nun wollen wir Jack Lew nicht eine naiv verkürzte Reuters-Schlagzeile in den Mund legen. In seiner Rede hat Obamas Schatzmeister zu Recht vor einer „verlorenen Dekade“ gewarnt: Die Eurozone dürfe sich nicht darauf verlassen, dass ihre Zentralbank sie aus dem Schlamassel ziehe. Tatsächlich kann Draghis verzweifelte Nullzinstherapie auch im besten Fall nur zu einem Aufschub verhelfen, den die Krisenländer für dringende Reformen nutzen müssten. Reformen, die vor allem Rom und Paris viel zu halbherzig angehen – was die chronische Wachstumsschwäche der Eurozone zu einem guten Teil erklärt.
Doch Lew wollte leider auf anderes hinaus: Staaten wie Deutschland oder Holland, die sich nach Jahrzehnten aus dem Teufelskreis alljährlicher Defizite befreit haben, sollen wieder kräftig neue Schulden machen, um die „Nachfrage anzukurbeln“. Zugleich müsse man Frankreich und Italien nachsehen, dass sie den Pfad der fiskalischen Tugend noch lange nicht einschlagen wollen. Das ist Keynesianismus für Arme: Was der große Lord als Wiederbelebungsversuch für den raren Fall empfohlen hat, dass die globale Nachfrage akut zusammenbricht, was seine Adepten zum praxisfernen Feintuning für den Ausgleich von Konjunkturschwankungen verdreht haben, soll nun auch strukturelle Schwächen einer Wirtschaftsregion kurieren.
Dass dies ein untaugliches Mittel ist, wissen die Europäer. Nicht staatlicher Konsum, „Investitionen“ heißt das neue Zauberwort. In den Köpfen der Deutschen spuken Bilder von bröckelnden Brücken und einer gewaltigen Investitionslücke. Das verdanken sie einer methodisch höchst fragwürdigen Studie, die es zwar zu zwei „Spiegel“-Covern gebracht hat, aber am Dienstag von den Wirtschaftsweisen in ihrem Jahresgutachten nach Strich und Faden zerlegt wurde. Egal, es passt so schön ins Konzept: Wir müssen für mehr Wachstum in Europa sorgen, und der Segen soll zweifach von oben kommen – von den Deutschen und vom Staat.
Jean-Claude Juncker hat den Ball geschickt aufgenommen. Dass er heute Kommissionspräsident ist, verdankt er auch diesem Wahlkampfversprechen: Er werde 300 Milliarden mobilisieren, um Europas Investitionsschwäche zu beheben. Woher das Geld kommen soll, bleibt vorerst ein großes Geheimnis.
Aber egal, ob die EU den Rettungsschirm anzapft, das Kapital der Investitionsbank aufstockt oder die Garantien noch weiter in schwindelnde Höhen treibt: Immer ist es Geld der Steuerzahler, das auf dem Spiel steht. Für eine Wette, die sich kaum gewinnen lässt: Dass nicht Millionen Wirtschaftssubjekte am besten wissen, wann und wo sie sinnvoll investieren, sondern die öffentliche Hand. Obwohl diese schon bei ihren eigenen, nationalen Aufgaben allzu oft für desaströse Fehlsteuerung sorgt. Man denke an Spanien: Autobahnen in die Pampa, Brücken ins Nirgendwo und leere Regionalflughäfen. Da erscheint die Hoffnung rührend, von den luftigen Höhen der Brüsseler Bürokratie aus könne eine Taskforce die lukrativsten Projekte für den ganzen Kontinent erspähen.
Die richtig gestellte Frage geht unter: Wie kann der Staat private Unternehmer ermutigen, aus freien Stücken und ohne staatlich aufgebesserte Rendite mehr zu investieren? Da gäbe es viel zu tun, was kaum kostet: Hemmnisse durch zu viel Bürokratie abbauen. Hürden auf dem Arbeitsmarkt beseitigen und dadurch für mehr Beschäftigung sorgen. Oder die Pensionssysteme an die rapide Alterung der Gesellschaft anpassen. Und ja, auch das: Dort kräftig investieren, wo der Markt wirklich versagt, wie bei der Bildung oder der Grundlagenforschung.
Aber das ist wohl zu wenig naiv gedacht. Denn: Wenn Politiker ihre Arbeitskraft investieren, denken sie meist an eine andere Rendite – an kühne Schlagzeilen und schnelle Wahlerfolge.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2014)