Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA „ist zum Scheitern verurteilt“, sagt der Ökonom Jeronim Capaldo von der Tufts University. Er hat eine Studie über die ökonomischen Auswirkungen auf Europa veröffentlicht.
Washington. Die steigende Flut hebt alle Boote: Auf diese Metapher lässt sich die Sichtweise der Europäischen Kommission auf den Welthandel bringen. Schon Pascal Lamy spickte vor einem Jahrzehnt jede seiner Reden mit ihr, wenn er als EU-Handelskommissar um Zustimmung für den Abbau von Zöllen und sonstigen Handelshindernissen warb.
Auch im Ringen um die gesellschaftliche Zustimmung für TTIP, das Abkommen zur Handels- und Investitionserleichterung mit den USA, vertritt die Kommission diese Linie. Je mehr Europa mit dem Rest der Welt handelt, desto besser ist das unter dem Strich für die Europäer. Gewiss mögen manche Arbeitnehmer ihre Stellen im verschärften globalen Wettbewerb verlieren, die Dynamisierung anderer Wirtschaftszweige eröffnet ihnen aber neue Chancen.
Falsche Grundannahmen
Für Jeronim Capaldo jedoch, einen jungen italienischen Wirtschaftswissenschaftler an der Tufts University in Massachusetts, beruht diese Brüsseler Hoffnung auf breite Wohlstandsgewinne durch mehr Handel mit den USA auf falschen Grundannahmen.
Wenn man die Auswirkungen einer verstärkten Verschränkung des europäischen Binnenmarktes mit jenem der USA auf Arbeitsmärkte, Löhne und Preise stärker ins Auge fasst, komme man in den ökonometrischen Berechnungen zu ernüchternden Ergebnissen: Gerechnet auf zehn Jahre werde TTIP zu einem Nettoverlust europäischer Ausfuhren führen, die europäische Wirtschaftsleistung je nach Land um einen halben Prozentpunkt senken, reale Lohnverluste von bis zu 5500 Euro verursachen und 583.000 Arbeitsplätze kosten.
„Der Aufwand für TTIP ist zum Scheitern verurteilt, und er verschwendet viel Energie der europäischen Politiker, die sie besser dafür nutzen sollten, Wege zur Steigerung der Binnennachfrage zu finden“, sagt Capaldo im Gespräch mit der „Presse“.
Die Haltung zu TTIP im Speziellen und dem Handel im Allgemeinen ist für ihn keine ideologische Frage, sondern eine pragmatische. „Der Text des Abkommens an sich ist nicht das Problem, sondern das, was um ihn herum an europäischer Politik fehlt. Am bedenklichsten finde ich es, dass derzeit fast jedes EU-Land in der Stagnation ist und auf eine Rezession zusteuert. Expansive Handelspolitik ist in so einer Lage keine wirksame Wachstumspolitik. Denn nicht jedes Land kann so einfach seine Exportleistung steigern.“
Ein deutsches Experiment
Mit der ordnungspolitischen Vorgabe, ganz Europa müsse sich an Deutschlands Kehrtwende unter dem sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder in der ersten Hälfte der Nullerjahre orientieren, also Löhne und Gehälter stark senken und somit im globalen Warenwettbewerb attraktiver werden, kann Capaldo wenig anfangen. „Ich stimme dieser Sichtweise nicht zu, denn ihr fehlt ein wesentliches Element. Das fabelhafte deutsche Experiment fand zu einem besonders günstigen Zeitpunkt statt, nämlich kurz nach der Einführung des Euro und während andere EU-Staaten an Wettbewerbsfähigkeit verloren.“
Die heute an den Folgen der Eurokrise laborierenden südeuropäischen Länder waren bis 2009 wichtige Märkte für deutsche Waren. Wenn ganz Europa sich an der deutschen Exportweltmeisterschaft ein Beispiel nehmen soll, müsste irgendjemand außerhalb der EU diese Waren und Dienstleistungen kaufen. Capaldo ist angesichts der globalen konjunkturellen Erlahmung skeptisch: „Ich sehe keine Weltregion, die ihre Importe ausreichend steigern würde, um damit Europas Wirtschaftsleistung zu steigern.“
Ein Weg zu mehr Wohlstand?
Im Grunde genommen dreht sich die ökonometrische Debatte darüber, ob mehr Handel netto den Wohlstand steigert oder senkt, um die Frage, ob man dem Angebot oder der Nachfrage auf den Arbeits- und Warenmärkten mehr Bedeutung beimisst.
Sprich: Glaubt man, dass mehr Wettbewerb und ein flexiblerer Arbeitsmarkt zu höheren Unternehmensumsätzen führen, die sich in Lohnsteigerungen niederschlagen? Oder hält man es für wichtiger, dass stabile Arbeitsverhältnisse und steigende Löhne sich in höherer Nachfrage nach diesen Gütern auswirken?
In diesem Ideenstreit geht es bisweilen ein bisschen zur Sache wie in der ewigen Auseinandersetzung über die Henne und das Ei. Capaldo, der für die International Labour Organization der UNO in Genf forscht, kennt die Grenzen der ökonometrischen Zukunftsforschung. „Jede Studie beruht auf Annahmen, aber das beste Kriterium dafür, welche man wählt, sollte die Relevanz sein.“
Die Studien, auf die sich die Europäische Kommission stützt, würden den Rückgang der Binnennachfrage in der Union nach dem Inkrafttreten von TTIP nicht berücksichtigen. „In Bezug auf die USA bin ich sehr skeptisch. Dort sind die Arbeitseinkommen noch niedriger als in Europa und die Gewinnmargen der Unternehmen höher. Wenn wir mit so einer Ökonomie noch direkt in Wettbewerb treten, werden Europas Unternehmen noch weniger verdienen.“ Und damit auch viele europäische Arbeitnehmer.
Fehlendes Vertrauen in Europa
Was also sollten Europas Staatenlenker tun, um den Massenwohlstand wieder steigen zu lassen? „Sie sollten die Vorstellung aufgeben, dass große Teile der Geschäftsrisken auf die Arbeitnehmer abgeladen werden. Das heißt ja nicht gleichzeitig, dass den Unternehmen rigide hohe Arbeitskosten umgehängt werden.“
Zumindest sollte versucht werden, das derzeitige Lohnniveau zu halten und den Menschen das Gefühl von Sicherheit zu geben. An fehlendem Vertrauen krankt Europas Konjunktur derzeit nämlich besonders stark.
„Für manche Konsumausgaben braucht man Kredit“, sagt Capaldo. „Aber den nimmt man nur auf, wenn man darauf vertrauen kann, in absehbarer Zeit seine Stelle nicht zu verlieren.“
Auf einen Blick
Das EU/US-Abkommen TTIP werde zu einem Nettoverlust europäischer Ausfuhren führen, die europäische Wirtschaftsleistung je nach Land um einen halben Prozentpunkt senken und 583.000 Arbeitsplätze kosten. Das hat der Ökonom Capaldo von der Tufts University errechnet. Seiner Meinung nach beruht die Brüsseler Hoffnung auf mehr Wohlstand durch TTIP auf falschen Grundannahmen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2014)