Israel: "Es wird hier nie Frieden geben"

epaselect MIDEAST ISRAEL PALESTINIANS CONFLICT
epaselect MIDEAST ISRAEL PALESTINIANS CONFLICTAPA/EPA/ATEF SAFADI
  • Drucken

In Israel grassiert nach der Implosion der Friedensverhandlungen und dem desaströsen Gaza-Krieg die Angst vor einer neuen Intifada, ja, vor einem Religionskrieg um den Tempelberg in Jerusalem.

Im schlauchartigen Gang der überdachten Brücke über der Klagemauer hinauf zum Mughrabi-Tor auf den Tempelberg lehnen die Plexiglas-Schutzschilde griffbereit für die Soldaten der Spezialeinheit, die bis an die Zähne bewaffnet, mit einem Gürtel dicker Tränengaspatronen um den Bauch geschnallt, auf weißen Plastiksesseln gelangweilt auf ihren Einsatzbefehl warten. Doch in Jerusalems Altstadt geht es wenige Tage nach dem blutrünstigen Attentat auf die Synagoge im orthodoxen Viertel Har Nof recht friedlich zu, die Gemüter haben sich abgekühlt, und das Plateau rund um den Felsendom und die al-Aqsa-Moschee verströmt zur Mittagsstunde geradezu eine Aura der Beschaulichkeit.

Die muslimischen Wächter, abgestellt von der jordanischen Kontrollinstanz als Hüter des dritthöchsten islamischen Heiligtums nach Mekka und Dschidda, geleiten einen orthodoxen Juden zu jener Stätte, wo die Römer vor beinahe zwei Jahrtausenden bei der Zerstörung des Tempels Salomons nur Ruinen zurückgelassen haben. Daraus beziehen strenggläubige Juden die Legitimität für eine Neuerrichtung des Tempels, wie der ultraorthodoxe Rabbi Jehuda Glick, der sein Eiferertum vor wenigen Wochen fast mit dem Leben bezahlte, als ihn ein Palästinenser mit mehreren Schüssen niederstreckte. Um den heiligen Boden nicht zu entweihen, betreten Orthodoxe den Tempelberg – in der arabischen Diktion Haram-al-Sharif – denn auch nur in Socken oder in in Plastiküberzügen gehüllten Schuhen.


Akt der Provokation. Eine restriktive Ausnahmegenehmigung gewährt ihnen den Zutritt, und Israels Premier Benjamin Netanjahu will an dem Status quo auf dem so heftig umstrittenen Plateau im Herzen der Hauptstadt nicht rütteln. Das versicherte er auch dem jordanischen König Abdullah und US-Außenminister John Kerry kürzlich bei einem Krisentreffen in der jordanischen Hauptstadt Amman. Vor 14 Jahren hatte einer seiner Vorgänger, der spätere Premier Ariel Scharon, in einem demonstrativen Akt der Provokation die zweite Intifada ausgelöst, als der bullige Politiker mit einer Entourage an Leibwächtern einen Spaziergang auf dem Tempelberg unternahm und so den Hass der Palästinenser anstachelte.

Von einer dritten Intifada, einer Jerusalem-Intifada, gar einem Religionskrieg raunen nach einer Serie von Zwischenfällen, nach plumpen Autoattacken und primitiven Messerangriffen durch palästinensische Einzeltäter – sogenannte einsame Wölfe – jetzt auch wieder manche in Nahost. Nach der schmählichen Implosion der Friedensverhandlungen unter der Vermittlung Kerrys, nach dem dritten desaströsen Gaza-Krieg innerhalb von sechs Jahren, nach der Ankündigung neuer israelischer Siedlungsprojekte und dem Erwerb von Häusern im arabischen Teil Jerusalems sucht der aufgestaute Zorn der Palästinenser ein Ventil – und die ohnmächtige Wut brach sich vielfach Bahn gegen unschuldige Opfer an der Linie 1.

Die silberne Straßenbahn, zur Rush-Hour vollgestopft mit Soldaten, Orthodoxen und Muslimen, sollte als Symbol der Versöhnung die verschiedenen Stadtteile verbinden, vom Herzlberg hinein in das Palästinenserviertel Silwan in Ostjerusalem. Stattdessen gingen Fensterscheiben zu Bruch. Der Vandalismus richtete sich nicht allein gegen Objekte, sondern als Terror auch blindlings gegen Passanten. Seither fährt in der Linie 1 wieder die Angst mit – ein wenig so wie vor 14Jahren, als Selbstmordattentate in Bussen, Cafés und Discos die Nation aufgewühlt haben. Fast jeder Israeli weiß eine Horrorgeschichte zu erzählen.

Es war die Zeit, als Leichenteile durch die Luft flogen und in den Bäumen hingen. Und auch jetzt rücken Jehuda Meshi-Zahav und seine Freiwilligen von der Hilfsorganisation Zaka wieder aus, um Überreste der Opfer einzusammeln. Der bis zu acht Meter hohe Sicherheitswall, der sich entlang der „grünen Linie“ schlängelt, hat Selbstmordattentäter abgeschreckt.

Unter den Israelis geht indessen erneut die Angst vor einer Terrorwelle um, die Polizei hat die Sicherheitsvorkehrungen an Schulen, Kindergärten und Synagogen verschärft. Soldaten gehören im Land ohnedies zum Alltag. Von Feinden umzingelt, von der Hisbollah im Norden, von der Hamas im Süden, hat der Staat seit der Gründung 1948 mit der konstanten Bedrohung zu leben gelernt, was mitunter eine schizophrene Mentalität ausgeprägt hat.

Als im Sommer der Raketenhagel aus Gaza auch über Tel Aviv niederging, da vertrauten viele der Abwehrkraft des „Iron Dome“ samt den Patriot-Abwehrraketen und dachten trotz des nächtlichen Alarms nicht daran, im Pyjama in den Bunkern Unterschlupf zu suchen. In den Strandbars von Tel Aviv ging das Leben fast seinen gewohnten Gang, die Surfer warfen sich in die Wellen.


"Wie in Hitchcock-Film". Ganz anders, nämlich viel unmittelbarer, nahm sich die Bedrohung durch die Katjuscha- und Kassam-Raketen der Hamas dagegen in Netiv Haasara aus, einer Farm-Kommune ein paar Steinwürfe vom Gazastreifen entfernt. Sobald die Sirene aufheulte, die die rote Alarmstufe „Zeva Adem“ markiert, blieben lediglich zehn bis 15 Sekunden Zeit, um Zuflucht im Bunker zu suchen. Ela Fenlon, Mutter zweier traumatisierter Kinder, bringt die Gräuel auf die Formel: „Es war wie in einem Hitchcock-Film.“ Die Raketen schlugen meist auf den Feldern und Gewächshäusern ein, im Gemeindezentrum haben die Bewohner einen Teil der grauen Sprengköpfe russischer oder iranischer Provenienz als groteske Schaustücke aufbewahrt. „Die Hamas will ja nur unsere Moral brechen.“ Aus Furcht vor Attentaten der Hamas traut sich nicht einmal mehr die Palästinenser-Führung unter Mahmoud Abbas nach Gaza, das Ghetto am Mittelmeer.

Mit Ende des Gaza-Kriegs endete auch der Raketenhagel jäh. „Sie flogen bis zur letzten Stunde.“ Ein Betonwall schützt die Kommune vor Scharfschützen, doch Ela treibt die Angst vor den Tunneln der Hamas um und die Ungewissheit, ob die Armee denn auch tatsächlich alle zerstört hat. Ihr Freund Roz schläft mit dem Revolver unter dem Kopfpolster. Der 39-Jährige, der sich brüstet, die „besten Tomaten der Welt“ anzubauen, zitiert einen Spruch der legendären Premierministerin Golda Meir: „Frieden wird es erst geben, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben, als sie uns hassen.“

Nicht nur Amos und Israel, Studenten am renommierten Herzliya Center, auch eingefleischte Linke und frühere Friedensaktivisten wie Ahrle Rothstein, Direktor einer innovativen Grundschule nahe Sderot, haben die Hoffnung auf Frieden vorerst aufgegeben, angeödet vom Blablabla der Politiker. Sie sind mit einem moralischen Dilemma konfrontiert – der Sehnsucht nach Frieden und dem Wunsch nach persönlicher Sicherheit. Rothsteins Schule liegt im Visier der Hamas-Raketen, kürzlich detonierte ein Sprengkörper im Garten seine Tochter. „Wir leben hier wie in der Nähe eines Vulkans, der alle zwei, drei Jahre ausbricht.“ Wie Ela und Roz denkt er partout nicht daran wegzuziehen. Amnon Zarka, ein Kibbuznik aus Erez, hegt die Vision einer gemeinsamen Avocado-Plantage mit den Palästinensern jenseits der Gaza-Grenze, während am Horizont über Gaza die Sonne untergeht: „Dann hätten sie keinen Grund mehr, uns anzugreifen.“

Über Jerusalem schweben weiße, mit Sensoren bestückte Ballons, die vor möglichen Anschlägen „einsamer Wölfe“ Alarm schlagen sollen. Auf dem Tempelberg verrichten derweil Moslems unter dem Schatten der Bäume ihre Gebete, strikt getrennt in Männer- und Frauengruppen. Durch die Via Dolorosa dröhnt der Ruf des Muezzin, die Luft ist erfüllt von Weihrauchduft. Ein Basarhändler, in gepflegtem brauen Anzug, in der Hand eine Gebetskette, sagt in stiller Wut: „Glaube mir, es wird hier nie Frieden geben.“

Pilgergruppen aus Italien ziehen durchs moslemische Viertel, vor den Stationen des Kreuzwegs sind manche tief versunken im Gebet – ebenso wie an der Klagemauer, wo orthodoxe Juden nickend an ihren Gebetsschnüren nesteln. In der Grabeskirche wischen Emsige über die Grabplatte Jesu. Israelische Spezialeinheiten in kugelsicheren Westen stürmen auf Patrouille durch die enge Gasse, auf dem Unterarm eines Soldaten prangt in Balkenlettern eine Tätowierung: „Für nichts zu leben, für etwas zu sterben.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

FILE MIDEAST ISRAEL PALESTINIANS
Außenpolitik

Israel: Attentat auf Außenminister Lieberman vereitelt

Hamas plante im Sommer im Westjordanland Anschlag auf Minister. In den vergangenen 20 Jahren hat es nur zwei Mordanschläge auf Politiker gegeben.
Israels Rechts-Außen-Außenminister Avigdor Lieberman
Außenpolitik

Israel: Hamas wollte Außenminister Lieberman töten

Militante planten angeblich ein Attentat mit einem Raketenwerfer. Mehrere Verdächtige wurden im Westjordanland festgenommen.
Einschussloch in der Synagoge, wo palästinensische Terroristen vier Rabbiner töteten
Außenpolitik

Nahost-Konflikt: Israelis sollen leichter an Waffen kommen

Zivilisten, unter anderem in jüdischen Siedlungen im Westjordanland, soll nach Willen der Regierung die Selbstverteidigung erleichtert werden. Der UN-Sicherheitsrat verurteit den jüngsten Anschlag auf eine Synagoge.
A Palestinian boy, relative of Abdel-Rahman Shaloudi, stands on rubble in Shaloudi's destroyed home in the East Jerusalem neighbourhood of Silwan
Außenpolitik

Israels Vergeltung: Zerstörung von Häusern angeordnet

Nach dem Anschlag auf eine Synagoge leitet Israel Strafmaßnahmen gegen die Familien der Attentäter ein. Netanajahu sieht "Kampf um Jersualem".
Außenpolitik

Nahost: Angst vor Religionskrieg in Israel

Palästinensische Attentäter richten Blutbad in einer Synagoge in Jerusalem an. Der politische Konflikt zwischen Israel und Palästinensern gleitet immer mehr in eine religiös gefärbte Konfrontation ab.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.