Ägypten: "Nieder mit allen Mubaraks"

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Nach der Einstellung des Verfahrens gegen Exdiktator Mubarak gingen in Kairo Tausende auf die Straße. Die Polizei löste die Proteste gewaltsam auf, zwei Menschen starben.

Kairo. „Wenn Mubarak unschuldig ist, wer ist dann für den Tod der Demonstranten verantwortlich?“, steht auf einem Schild, das ein junger Demonstrant in der Nähe des Tahrir-Platzes hochhält, während zahlreiche Autofahrer ihn in Zustimmung anhupen.

Wenige Stunden zuvor hatte ein Gericht in Kairo das Verfahren gegen den Exdiktator eingestellt; heftige Proteste tausender Mubarak-Gegner in Kairo waren die Folge. Zwei Menschen starben, mindestens 85 wurden verhaftet. Mubarak war angeklagt, für die Tötung von hunderten Demonstranten während des Aufstands im Frühjahr 2011 mitverantwortlich zu sein. Sein Innenminister, Habib El-Adli, sowie sechs ehemalige Offiziere wurden von der Anklage freigesprochen. Die Einstellung des Verfahrens wird von vielen Ägyptern als komplettes Reinwaschen des alten Regimes durch die Justiz empfunden. Bereits zuvor wurden 170 Polizeioffiziere, die wegen Tötung von Demonstranten vor Gericht gestanden waren, freigelassen.

Vor dem Gericht brach ein junger Mann nach dem Urteilsspruch zusammen. Er hatte zuvor ein weißes Leichentuch in der Hand gehalten, symbolisch für seinen Bruder, der während des Aufstands gegen Mubarak umgekommen war. „Mein Bruder wird sein Recht bekommen“, hatte er noch vor dem Urteil zuversichtlich erklärt. Nach dem Urteilsspruch warf er sich schreiend auf die Straße. „Heute ist mein Bruder ein zweites Mal ermordet worden!“, rief er.

Diskutiert wird nun, ob Mubarak bald wieder ein freier Mann ist. Er hat eine dreijährige Strafe in einem Korruptionsfall abzusitzen, die er weitgehend nicht im Gefängnis, sondern im Krankenhaus verbracht hat. Das Urteil war im Mai dieses Jahres gefällt worden, allerdings sitzt Mubarak ohnehin seit Mai 2011 in Haft. Jetzt geht es darum, ob die frühere Haftzeit angerechnet wird. Im wichtigsten Fall, dem der Beihilfe zum Mord von Demonstranten während des Aufstands, wurde Mubarak nicht, wie oft fälschlich berichtet, freigesprochen: Der Richter hat das Verfahren nur aus prozessualen Gründen ohne Entscheidung in der Sache, also ohne Urteil, eingestellt.

Zunächst waren nur der Innenminister und sein Sicherheitschef angeklagt. Mubarak wurde aufgrund öffentlichen Drucks als Angeklagter dem Verfahren zugeschlagen. Das hat der Richter als Verfahrensfehler interpretiert und damit den Prozess eingestellt. Nun wird die Staatsanwaltschaft mit ziemlicher Sicherheit das Kassationsgericht anrufen, das entscheiden muss, ob es im Prozedere des Verfahrens Fehler gab. Das Gericht kann das Urteil entweder ratifizieren – damit wäre das Verfahren gegen Mubarak abgeschlossen. Oder es kann wegen Verfahrensfehlern eine Neuverhandlung beschließen. Das wäre dann ein letzter Prozess, der vom Kassationsgericht selbst verhandelt würde, das dann wie ein Strafgericht agiert und den Fall völlig neu aufrollt. Die Mubarak-Gerichtssaga ist also nicht beendet, geht somit wahrscheinlich in eine weitere, noch dramatischere Runde.

„Revolution wurde gestohlen“

Nachdem der 86-Jährige nach dem Urteil zurück ins Krankenhaus gebracht wurde, wurde er per Telefon in eine Fernseh-Talkshow zugeschaltet: Er sei sich keinerlei Vergehen bewusst, sagte er. Daraufhin zirkulierten auf Facebook und Twitter Fotos der über 800 während des Aufstands umgekommenen Demonstranten, um „dem Gedächtnis Mubaraks auf die Sprünge zu helfen“. In einem Tweet heißt es zynisch: „Wenn niemand für den Tod der Demonstranten verantwortlich ist, dann haben sie wohl alle Suizid begangen.“

Am Abend versammelte sich eine Gruppe von mehreren tausend Menschen zur größten Demonstration in unmittelbarer Nähe des Tahrir-Platzes, seit Präsident Abdel Fattah al-Sisi sein Amt übernommen hat und das Demonstrationsrecht verschärft wurde. „Das Urteil ist ein weiterer Beweis, dass sie unsere Revolution gestohlen haben“, meint Student Mustafa. Es dauerte nicht lange, bis die Polizei die Demonstration mit Tränengas, Wasserwerfern und Schrotmunition auflöste. Fliehende Demonstranten wurden festgenommen, mit einer aus der Mubarak-Zeit bekannten Mischung aus zivilen Schlägertrupps und Polizei – zu sehen auch auf Motorrädern mit Beifahrern, die Gewehre halten.

Am Sonntag gingen die Proteste weiter, an der Universität Kairo, in Alexandria, aber auch in einigen Nildelta-Städten. Seit dem Urteil haben die Studenten einen neuen Ruf, der ihren Protest der letzten vier Jahre gegen Mubarak bis hin zu al-Sisi miteinander verbindet: „Nieder mit allen Mubaraks!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2014)

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