Ukraine: Das Land, wo Lenin vom Sockel fällt

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UKRAINE CRISIS(c) APA/EPA/ROMAN PILIPEY (ROMAN PILIPEY)
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Slowjansk wurde vor fünf Monaten von der ukrainischen Armee eingenommen. Doch der Umgang mit der nahen und ferneren Vergangenheit beschäftigt die Stadt weiterhin.

Immer wenn Anatolij Bowsdarenko den zentralen Platz von Slowjansk überquert, sieht er das Produkt seiner Anstrengungen. Es ist anthrazitfarben, etwa vier Meter hoch und sieben Tonnen schwer. Ein Lenin aus Bronze, der mit nachdenklichem Blick den weiträumigen betonierten Platz überblickt, auf dem derzeit Schneematsch und Wasserlacken eine urbane Sumpflandschaft bilden. Wladimir Iljitsch trägt in der Linken einen Packen Papier, Akten vielleicht, oder Zeitungen, die rechte Hand ist in der Manteltasche versenkt. Der 77-jährige Bowsdarenko, der in Lederjacke und Pelzmütze dem nasskalten Wetter trotzt, blickt zu der Statue hoch und gestattet sich leise Kritik: „Wäre es nach mir gegangen, ich hätte ihn dynamischer dargestellt.“

Doch Bowsdarenko war nur der Gießer, der 1976 mehr als zwei Wochen lang Tag und Nacht schuftete, damit die Statue aus schwerem Metall noch rechtzeitig zum 300-Jahre-Jubiläum der Stadt fertig wurde. Der bronzene Lenin musste rechtzeitig zum Festtag den Platz zieren. Heute wollen ihn viele loswerden, am besten über Nacht.

Kampfansage an Kommunisten

Am 8. Dezember 2013 fällten in Kiew Maidan-Demonstranten – die meisten von ihnen waren Anhänger der nationalistischen „Swoboda“-Partei – eine Lenin-Statue. Es war eine politische Kampfansage an die Kommunisten und all jene, die weiterhin bereit waren, das sowjetische Erbe zu verteidigen. Seither ist nicht nur die frühere Regierung von der Macht vertrieben worden, es wurden auch viele weitere Lenin-Denkmäler im ganzen Land vom Sockel gestürzt. Die Demonstranten haben für ihre Aktionen sogar einen Begriff geschaffen: Leninopad, Leninfall.

Mehr als 500 Denkmäler sind dem Proteststurm zum Opfer gefallen, oft in illegalen Nacht-und-Nebel-Aktionen, die von der lokalen Polizei aber geduldet werden. Es ist symbolische Politik mit Hang zum Handgreiflichen und der Wunsch, die Ikonen der Vergangenheit zu begraben. Und den prosowjetischen oder prorussischen Kräften ihren liebsten Versammlungsort zu nehmen. Mehr als 1700 Lenin-Statuen soll es nach Angaben des Nationalen Gedächtnis-Instituts in der Ukraine noch geben.

Auch in Slowjansk, das durch die Schreckensherrschaft des Separatistenkommandanten Igor Girkin und des selbst ernannten Bürgermeisters Wjatscheslaw Ponomarjow international bekannt wurde, wird über die Zukunft der Statue heftig diskutiert. Aktivisten haben ihr eine ukrainische Flagge um den Hals gelegt. Vielen reicht das nicht. Sie wollen das Denkmal loswerden.

Auch die Gegenseite regt sich und hat Unterschriften gesammelt. Über die Abhaltung einer Abstimmung wird diskutiert, anders als in vielen Städten will man eine „zivilisierte“ Lösung finden. Bowsdarenko, der im Stadtrat für die Kommunisten sitzt, schlägt eine Wohltätigkeitsauktion vor, bei der der Meistbietende die Statue erwirbt. Startpreis: der Wert des Rohstoffs, den er auf 140.000 Euro schätzt.

Denis Bigunows Zimmer befindet sich im zweiten Stock der Stadtverwaltung. Von seinem Fenster aus sieht man die Statue nicht, sondern nur abwaschwassergraue Wohnblockfassaden und krumme, in die kargen Grünflächen geschlagene Wege – die Kehrseite des kommunistischen Pomp. Bigunow ist ein hagerer 27-Jähriger mit kurzem, braunem Haar. Er ist für die Öffentlichkeitsarbeit der Stadtverwaltung zuständig. Sein Zimmer zieren ukrainische Flaggen, selbst der Bildschirmschoner ist ein gelbes Weizenfeld, darüber blauer Himmel. Der gebürtige Slowjansker kam mit der Nationalgarde in die Stadt, kurz nachdem die Separatisten Anfang Juli aus der Stadt geflüchtet waren.

„Ein Denkmal der Gewalt“

Mit der Flucht der prorussischen Kämpfer verschwanden auch die prorussischen Anhänger von der Oberfläche. Jetzt ist die Stadtverwaltung Anlaufstelle tausender Flüchtlinge aus den Separatisten-Gebieten. An den Wänden hängen Plakate, die vor Minen warnen und Hotlines für Hinweise auf separatistische Umtriebe. Die Front ist 100 Kilometer entfernt, doch die Angst vor einer Rückkehr der Rebellen ist groß.

Für Bigunow ist die Leninstatue ganz klar ein „Denkmal der Gewalt“. Ihn stört, dass viele seiner Mitbürger nach wie vor eine verklärende Sicht auf den Sowjetführer haben. Doch nicht nur die Sicht auf Lenin, auch die Einschätzung der jüngsten Vergangenheit entzweit die Bürger. Bei den Parlamentswahlen im Oktober siegte ein Kandidat, der gelobte, die Politik der früheren Regierung weiterzuführen. Geworben hat der Industrielle auch mit Geschenken an die Wähler – übliches Mittel der Lokalherren, ihre Macht unter Beweis zu stellen. Und auch bei den Parteilisten hat im Bezirk Slowjansk das Nachfolgeprojekt der Partei der Regionen, der Oppositionsblock, mit 35 Prozent der Stimmen das Rennen gemacht.

Slowjansk ist heute unter ukrainischer Kontrolle, aber ist es proukrainisch? Bigunow wirkt zuversichtlich: Für ihn ist es „eine Generationenfrage“, also eine Frage der Zeit, bis die prowestlichen Stimmen an Einfluss gewinnen. „Noch sind die anderen in der Mehrheit, aber sie werden weniger.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2014)

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