1914: Erinnern und vergessen auf dem Balkan

In unzähligen Veranstaltungen wurde im Gedenkjahr 2014 des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges gedacht. Zugleich wurden Lücken, Kontroversen und Schwierigkeiten des Gedenkens aufgezeigt, so auch in Südosteuropa.

Die Jahre 1914 und 1918 werden in zahlreichen Staaten Südosteuropas anders gesehen als in der globalen Geschichtswahrnehmung. Kriegsbeginn und -ende werden dort anders datiert. So gelten 1914 und 1918 lediglich als der Beginn neuer Kapitel, nicht jedoch als einschneidende Zäsuren.

Tatsächlich befanden sich alle Staaten auf dem Balkan bereits ab 1912 im Krieg, der nur von zwei Monaten Frieden unterbrochen wurde. Zwischen den beiden regionalen Kriegen und dem Beginn des Ersten Weltkriegs lag weniger als ein Jahr. Auch nach 1918 setzte sich der Krieg fort. Zwischen Griechenland und der entstehenden Türkei endete der Konflikt erst Anfang 1923, als beide Staaten den „Bevölkerungsaustausch“ aller orthodoxen Einwohner der Türkei und aller Muslime Griechenlands (mit einigen Ausnahmen, wie Istanbul und Westthrakien) vereinbarten.

Fast zehn Jahre Krieg

Die italienisch besetzten Gebiete in Dalmatien gingen erst 1920 an das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen über, Albanien blieb noch bis in die frühen 1920er-Jahre mit internen Konflikten und Begehrlichkeiten Italiens und Griechenlands beschäftigt. Somit dauerte der Krieg in Teilen Südosteuropas fast ein Jahrzehnt, unterbrochen von kurzen Feuerpausen.

In einem Jahrzehnt des Konfliktes, in dem sich die neuen Nationalstaaten Südosteuropas etablierten und endgültig die multinationalen Reiche verdrängten, kann daher kaum überraschen, wenn 1914 weniger Erinnerungen hervorruft als etwa in Frankreich, Großbritannien oder Belgien. Nicht nur deshalb ist das Erinnern an den Ersten Weltkrieg national und von der Gegenwart geprägt.

In diesem Jahr stand in Serbien das Bündnis mit Russland im Vordergrund des Gedenkens an den Ersten Weltkrieg. Der Allianz mit Frankreich oder Großbritannien, die früher von zentraler Bedeutung war, wurde diesmal kaum gedacht. In Albanien, aber auch in Kroatien und Slowenien, überwiegt das Vergessen. Der Erste Weltkrieg passt nicht in das nationale Narrativ. Denn die Soldaten haben zumeist auf der Seite der Verlierer gekämpft, wie in Kroatien und Slowenien; oder andere Ereignisse, wie die Gründung des Albanischen Staates 1912, überschatteten den Krieg.

Aufgrund der Versuche mancher nationalistischer Historiker, eine einseitige Sicht der Vergangenheit innerhalb einzelner Staaten des Balkans zu propagieren, hat sich kein allgemein akzeptiertes Geschichtsverständnis herausgebildet. So prägt in Griechenland für dieses Jahrzehnt der Konflikt zwischen König Konstantin und Ministerpräsident Venizelos die Geschichtsschreibung. In der Türkei finden sich unterschiedliche Gewichtungen – je nachdem, ob man der nationalistisch-kemalistischen oder der eher religiös geprägten Weltsicht der jetzigen Regierungspartei AKP folgt.

Princip – Terrorist oder Held?

In Bosnien wiederum ist die Sicht durch ethno-nationale Identitäten geprägt. Offiziell überwiegt dort die Einschätzung von Princip als Terroristen oder zumindest als eine negative Figur. Doch sind die Bosniaken in dieser Frage gespalten. Eine deutliche Mehrheit der bosnischen Serben hält Gavrilo Princip für einen Helden. Für die Einschätzung unter Bosniaken ist oft das Alter maßgeblich. Ältere Generationen haben noch in sozialistischen Zeit gelernt, dass Princip und seine Mitkämpfer die Ermordung Franz Ferdinands für soziale Gerechtigkeit und für Jugoslawien planten, während für Jüngere Princip zu einem Symbol des serbischen Nationalismus geworden ist.

Kein europäisches Gedenken

Der Versuch eines europäischen Gedenkens auf dem Balkan an das Jahr 1914 ist zumindest in Bosnien gescheitert. Die Gedenkfeiern im Juni offenbarten vielmehr die Schwierigkeiten eines gemeinsamen Gedenkens an den Krieg.

Nicht nur die innerbosnischen Konflikte zwischen beiden Entitäten und damit zwischen einer überwiegend bosniakischen und einer dominant serbischen Sichtweise gestalten das Gedenken in Sarajewo schwierig.

Auch unterschiedliche Sichtweisen Frankreichs und Österreichs führten zu Spannungen, sodass als gemeinsamer Nenner der EU-finanzierten Veranstaltungen nur das Unterhaltsame übrig blieb (Radrennen, Konzert der Wiener Philharmoniker). Die Reduzierung des Gedenkens auf Schlagworte („Frieden und Versöhnung“) und die ausdrückliche Brücke zum Krieg der 1990er-Jahre schufen mehr Verwirrung als Klarheit.

Die serbische Autorin Biljana Srbljanović spannt in ihrem Theaterstück „Das Grab ist mir zu klein“ einen Bogen vom serbischen Offizier Dragutin Dimitrijević, genannt Apis, der die jungen Bosnier, unter ihnen Gavrilo Princip, 1914 mit Waffen ausrüstete, und den Attentätern, die Zoran Djindjić 89 Jahre später ermordeten. Sie ordnet damit die Vergangenheit der Gegenwart unter. Die Parallelen zwischen den 1990er-Jahren und dem Weltkrieg bestehen jedoch in den Mechanismen der Gewalt gegen Zivilisten und in dem, was heute oft als „ethnische Säuberungen“ bezeichnet wird.

Für die Forschung bildet deshalb die Frage nach den Gründen für die Radikalisierung und Brutalität der Armeen ein wichtiges, wenn auch unbequemes Thema. Auch wenn der Krieg nicht als Vernichtungskrieg mit Völkermord, wie der Zweite Weltkrieg, geführt wurde, kam es schon während des Ersten Weltkrieges zunehmend zu Gewalt gegen die Zivilbevölkerung.

Wenig neue Erkenntnisse

Massenvertreibung und Völkermord an den Armeniern durch das Osmanische Reich bilden zweifellos ein Extrem. Doch richtete sich auch der Krieg Österreich-Ungarns gegen Zivilisten. Dies wurde besonders in besetzten Gebieten in der Ukraine und in Serbien deutlich. Diese Gewalt war es, die nach Kriegsende eine Rückkehr zu multinationalen Staaten, verhinderte.

Das Gedenkjahr hat zwar wenig Neues über den Ersten Weltkrieg zutage gefördert, doch hat der Gedenkmarathon in weiten Teilen Europas den Krieg erneut ins öffentliche Gedächtnis gerückt. Auch in manchen Ländern Südosteuropas hat das Jahr 2014 eine öffentliche Diskussion über den Krieg ausgelöst, insbesondere in Serbien. Hier werden die Fachhistoriker des Ersten Weltkriegs oft von Hobbyforschern und nationalistischen Historikern übertönt, die Christopher Clark mit seinen „Schlafwandlern“ eine Verschwörung gegen Serbien unterstellen.

Wie anderswo wurde in Serbien die Öffentlichkeit mit historischen Forschungen konfrontiert und war „schockiert“, dass diese nicht mit Schulwissen oder mit gesellschaftlichen Mythen übereinstimmen. In dieser Hinsicht kann das Gedenken fruchtbar sein. Ob das überall gelingt, muss allerdings bezweifelt werden. Jedenfalls steht ein nur national angelegtes Gedenken an einen globalen Krieg, der in Südosteuropa zwar seinen Ausgang nahm, jedoch in Ursachen und Folgen weit darüber hinausging, einer wirklich umfassenden Auseinandersetzung im Weg.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Florian Bieber
(* 1973) hat Geschichte und Politikwissenschaft studiert. Er ist Professor für Südosteuropa an der Karl-Franzens-Universität und Leiter des Zentrums für Südosteuropastudien. Sein Gastkommentar beruht auf Diskussionen im Rahmen der Tagung „Histories of 1914. Debates and Use of the Origins of World War One in Southeastern Europe“, die im November in Graz stattfand. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.12.2014)

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