Die Kohlespechte von Wałbrzych

in der blauen Jacke – steht vor einem Abgang in einen alten Schacht. Im Hintergrund: die Ruinen eines Bergwerksgebäudes in der Nähe der Stadt Wałbrzych.
in der blauen Jacke – steht vor einem Abgang in einen alten Schacht. Im Hintergrund: die Ruinen eines Bergwerksgebäudes in der Nähe der Stadt Wałbrzych.Michael Biach
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Die einst traditionsreichen Zechen Polens sind längst geschlossen. Heute fördern in Niederschlesien arbeitslose Kumpel illegal Kohle unter den gleichen Bedingungen wie schon vor hunderten Jahren.

Das Loch in der Erde, vor dem Roman Janiszek steht, ist gerade einmal groß genug, dass ein erwachsener Mensch gebückt hindurch gehen kann. Hinter dem Eingang eröffnet sich ein schmaler Schacht, der keinen halben Meter hoch ist. Das darüber liegende Erdreich wird mit Hilfe von kleinen Baumstämmen abgestützt. Der hagere 52-Jährige robbt routiniert den engen Schacht entlang, zuerst zehn Meter schräg in die Tiefe, dann weitere zwanzig Meter in den Fels hinein. „Willkommen an meinem Arbeitsplatz“, schmunzelt der sonst eher wortkarge Mann im Lichtkegel seiner Taschenlampe.

Ausschließlich mit Spaten und Spitzhacke ausgerüstet beginnt Janiszek glitzernde Kohlestücke aus der Wand neben ihm zu schlagen. Schweißtropfen bilden sich auf seiner Stirn. Dass es außerhalb des Berges gefriert, merkt man hier, zehn Meter unter der Erde, nicht. Plötzlich bricht ein großes Stück Kohle ab. „Die Qualität ist einfach großartig, der Brennwert fast so gut wie der von Koks“, schwärmt er und setzt, nachdem die umliegenden Abstützungen des Erdreichs nochmals kontrolliert wurden, seine Arbeit fort. Roman Janiszek ist ein „Kohlespecht“. So werden im polnischen Wałbrzych, dem ehemaligen deutschen Waldenburg, jene illegalen Kohlegräber genannt, die nach der Schließung der Zechen damit begonnen haben, selbstständig Kohle abzubauen. Ihre Arbeit ist verboten, für den Staat sind sie Kriminelle, die Polizei verfolgt sie.

Unrentable Werke geschlossen. Einst galt die niederschlesische Stadt als das Zentrum des wichtigsten Bergbaugebiets Polens. Doch bereits in den 1980er-Jahren wurden viele Werke unrentabel und mussten geschlossen werden. Der Übergang von Plan- zur Marktwirtschaft beschleunigte den Auflösungsprozess, und so verlor auch Roman Janiszek neben tausenden anderen Mitte der 1990er-Jahre seinen Arbeitsplatz im einstigen Vorzeigewerk Thorez. „Anfangs war ich einfach nur traurig und enttäuscht von der Entscheidung“, erzählt Roman Janiszek. Der Versuch, rasch wieder Arbeit zu finden, scheitert, und auch die Sozialleistungen des Staates bleiben aus. Der einst so stolze Bergarbeiter verlor jegliches Selbstwertgefühl. „Irgendwann gab es einen Zeitpunkt, da war ich wirklich am Ende“, erinnert er sich mit starrem, ausdruckslosem Blick.

Völlig heruntergekommen bettelte er um Geld und Arbeit. Dann traf er auf einen alten Bekannten, der ihm mitteilte, dass in den Wäldern wieder nach Kohle gegraben werde. „Das war ein besonderer Augenblick voller Euphorie und Tatendrang“, sagt Janiszek. Er zögerte nicht lange, packt Spaten und Spitzhacke wieder aus und machte sich mit seinen ehemaligen Kumpels an die Arbeit. „Das System ist gleich, wie beim industriellen Bergbau“, erläutert der Profi. Zuerst wird ein Schacht vertikal in die Erde gegraben, bis man auf eine Kohleader trifft. Dann gräbt man horizontal unter Tag weiter. „Die Zechen wurden vielleicht geschlossen, aber das ,schwarze Gold‘ war immer noch da“, lacht Roman Janiszek und deutet auf die eben geschürften Kohlestücke in seinen Händen.

Niederschlesien gilt als das Armenhaus Polens und weist die höchste Arbeitslosenrate des Landes aus. Für die Bewohner kommt es da sehr gelegen, Heizmaterial unter dem marktüblichen Wert zu kaufen.


Direktverkauf. Roman Janiszek schaufelt die herausgebrochene Kohle in einen Plastikkübel, an dessen Ende ein langes Kabel hängt, das bis zum Ausgang führt. Sobald das Gefäß voll ist, ruft er einem Kollegen zu, die schwere Fracht nach oben zu ziehen und in Säcke zu verpacken. Mehrere Kilogramm Kohle bauen die beiden so über Nacht ab und verkaufen sie direkt an den Endverbraucher. Wer die Käufer sind und wie viel sie bezahlen, will keiner der Männer verraten. Nur so viel: „Jeder hat seine eigenen Kunden, und der Preis wird bereits im Voraus vereinbart.“

Doch Janiszek weiß, dass seine Tätigkeit einen gravierenden Haken hat: Die Arbeit der Männer ist illegal. Die Politik ignoriert das Problem, spricht sogar offiziell davon, dass es in Wałbrzych gar keine „Armenstollen“ gibt. „Immer wieder macht die Polizei Jagd auf uns, zerstört unsere Gruben, verhaftet Arbeiter und konfisziert Kohle und Transportfahrzeuge“, fasst Roman die Situation zusammen. Dass der Staat die Männer bewusst in die Illegalität drängt, war für den ehemaligen Bergbauarbeiter ein Grund, das „Komitee zur Verteidigung der Armenschächte“ zu gründen. Seit 2004 geht er für die Legalisierung der Arbeit und die Anliegen der „Biedaszybnicy“ auf die Straße. Roman war selbst bereits einige Male im Gefängnis, musste Bußgelder zahlen oder Sozialdienst leisten.

Durchlöcherte Berge. Weder Verbote noch Einsätze der Polizei haben bislang Wirkung gezeigt. Stattdessen arbeiten die meisten Biedaszybnicy mittlerweile nur mehr nachts, weil die Polizei da seltener kontrolliert. Die Wälder um Wałbrzych sehen sprichwörtlich aus wie Schweizer Käse, ein Loch liegt neben dem nächsten. Stürzt einer der Tunnel ein, wird daneben ein neuer gegraben. Aus Angst vor der Polizei wollen nur wenige fotografiert und interviewt werden. Die Gefahr einer Gefängnisstrafe ist zu groß.

Durch die nicht reglementierte Tätigkeit leidet auch die Umwelt. Leere Gruben werden immer wieder zur Müllentsorgung verwendet, auch illegale Dieselmischer entsorgen dort angeblich ihre Chemikalien. Hinzu kommt das illegale Fällen von Bäumen, aus denen Leitern und Abstützungen der Schächte errichtet werden. Mittlerweile hat das „Schwarze Gold“ aber nicht nur jene erfahrenen, ehemaligen Bergwerkskumpel, die ihren Arbeitsplatz in den geschlossenen Zechen verloren haben, angezogen. Immer mehr unerfahrene und junge Kohlespechte riskieren für etwas mehr als zehn Euro am Tag Freiheit und Leben. Roman und seine Kollegen packen die Kohle in Säcke und machen sich durch die Nacht auf den Weg zum Auto, als sie im Dunkeln auf David und Mateusz treffen, beide etwa 18 Jahre alt, schlecht ausgerüstet, und vor allem unerfahren.


Altmetallklauen bringt mehr Geld. Der selbst ernannte Advokat der Armengruben nimmt sich Zeit und erzählt den Jungen ausführlich, worauf beim Abstützen des Erdreichs geachtet werden muss, und wie man die Löcher zum Schutz anderer sichtbar macht. Immer wieder dokumentiert er mit seiner Digitalkamera auch den Zustand der aktiven Gruben, erkundigt sich nach der Qualität der Kohle an unterschiedlichen Stellen und hört sich Probleme der illegalen Kohlejäger an. Die Biedaszybnicy vertrauen Roman. In einem anderen Teil des Waldes tauchen plötzlich weitere Arbeiter auf. Sie suchen jedoch nicht nach Kohle, sondern nach alten Rohren, die neben bereits verfallenen Gebäuden der alten Kohlezechen liegen.

Altmetallklau bringt noch mehr Geld als Kohle, wird aber auch mit drastischeren Freiheitsstrafen belangt. Die höfliche Bitte, nicht zu fotografieren, wandelt sich nun zur ernst gemeinten Drohung. Roman Janiszek ist die Situation sichtlich unangenehm. „Alles, was wir wollen, ist, dass unsere Arbeit legalisiert wird“, versichert er. Wie genau eine staatliche Regelung ablaufen könnte, weiß er selbst auch nicht so genau.

Keine Sicherheitsvorkehrungen. So wie die Situation jedoch in den letzten beiden Jahrzehnten gehandhabt wurde, könne es nicht weitergehen. „Seit mehr als 500 Jahren wird in Wałbrzych gegraben. Solange es Kohle gibt, wird sie jemand abbauen“, ist sich Janiszek sicher. Er kritisiert vor allem die Bedingungen, unter denen die Männer ihrer Tätigkeit nachgehen müssen. Es gibt keine Sicherheitsvorschriften, keine Kontrollen.

Mit bloßen Händen graben die Männer Schächte und Tunnel. Immer wieder passieren tödliche Unfälle. „Acht Menschen kamen im Vorjahr in den Minen ums Leben“, erzählt er. Gehör hat sein Engagement in Polen bislang kaum gefunden. Zwar berichten die Medien immer wieder über die Armenschächte, doch geht es ihm und den anderen nicht um Mitleid, sondern darum, einer ganzen Berufsgruppe ihre Würde wieder zu geben.

In seiner kleinen Wohnung, die nur unweit des Rathauses liegt, kramt Roman Janiszek in alten Fotos und zeigt Erinnerungsstücke aus seiner Zeit als Bergbaukumpel. Als er seine alte Paradeuniform noch einmal anlegt, wird für ein paar Momente eine längst vergangene Zeit wach: als Janiszek jung und noch verheiratet war und einen angesehenen Beruf ausüben konnte.

Momente später betrachtet er sich mit traurigen Augen selbst im Spiegel. Roman Janiszeks Schicksal steht sinngemäß für den Stellenwert, den die Biedaszybnicy, die Armengräber Polens, in der heutigen Gesellschaft haben.

Ende einer Tradition

Die niederschlesische Stadt Wałbrzych mit ihren knapp 120.000 Einwohnern war einst das Zentrum des polnischen Steinkohlereviers. Doch bereits in den 1980er-Jahren wurden viele Werke unrentabel und mussten geschlossen werden. Der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft beschleunigte den Auflösungsprozess. Mitte der 1990er-Jahre schlossen die letzten Bergwerke ihre Pforten. Heute gibt es in der Gegend nur noch eine Kohlegrube – diese wird als Bergwerksmuseum geführt.

Fakten

1526 wurde in Wałbrzych erstmals der Bergbau urkundlich erwähnt. Ab Anfang des 19. Jahrhunderts hatte der Abbau von Steinkohle größte wirtschaftliche Bedeutung erlangt.

Mitte der 1990er-Jahre schlossen die letzten Gruben. Die Abwanderung schreitet seither voran: 20.000 Menschen haben der Stadt den Rücken gekehrt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.01.2015)


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