Vorurteile: Frankreichs Angst vor einem Niedergang

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Das Verhältnis der Franzosen zu ihren muslimischen Mitbürgern wird durch historische Altlasten aus der Kolonialepoche erschwert.

Paris. Nichts veranschaulicht besser, wie komplex, historisch vorbelastet und von zum Teil irrationalen Ängsten überschattet das Verhältnis der meisten Franzosen zum Islam und zu den muslimischen Mitbürgern ist, als die gegenwärtige Debatte über Michel Houellebecqs neueste Romansatire „Soumission“ – auf Deutsch „Unterwerfung“.

Der umstrittenste der französischen Schriftsteller der Gegenwart zeichnet darin als Hintergrund seiner philosophisch-sexuellen Erlebnisse und Reflexionen eines Professors an der Sorbonne-Universität ein Frankreich, in dem nach zwei Mandaten eines total ohnmächtigen François Hollande und der Niederlage des rechtsnationalistischen Front National bei Wahlen eine sogenannte Muslim-Partei im Jahr 2022 die Macht übernommen hat. Auch sein Protagonist François konvertiert zuletzt als Zeichen seiner Anpassung und Unterwerfung – wie viel andere – zum Islam.

Es scheint nicht wirklich Houellebecqs Ziel zu sein, mit diesem Sittengemälde einer nahen Zukunft seine Landsleute aufzuschrecken. Dennoch sticht der Autor in ein emotionales Wespennest. Denn die Angst vieler Franzosen vor einem ideologisch-politischen Islam ist real. In den Köpfen geistert die zumeist rassistisch gefärbte Befürchtung, dass die „Français de souche“ („die ursprünglichen Franzosen“), die sich auf die abendländisch-christliche Herkunft berufen können, schon in absehbarer Zeit durch Nachkommen der Immigranten aus muslimischen Ländern ersetzt werden. Dieser Vorstellung zufolge werden diese Neuzuzügler bald in der Mehrheit sein und mit ihrer Lebensart, Kultur und Religion dominieren.

Stimmung gegen Integration

Schon heute muss in dieser Perspektive der Bau einer Moschee oder die Gründung einer islamischen Privatschule verdächtig erscheinen. Auf diesem Nährboden gedeiht die fremdenfeindliche Rechte. Sie macht Stimmung gegen diesen Teil der Bevölkerung, deren (legitime) Wünsche nach Integration und Gleichstellung sie als Vorzeichen einer drohenden fortschreitenden Machtübernahme zulasten der Einheimischen darstellt.

Keine Religionsstatistiken

Letztlich handelt es sich bei dieser Befürchtung um eine vor dem internationalen Kontext aktualisierte Version der in Frankreich seit mehr als hundert Jahren immer wieder zirkulierenden Niedergangstheorie. Natürlich fördern solche Ressentiments auch das Amalgam zwischen Islam und islamistischen Terroristen, die ihrerseits ja ihre Aktionen mit einem anachronistischen Kreuzzugsschema rechtfertigen wollen.

Paradoxerweise gibt es ausgerechnet in Frankreich keinerlei offiziellen Angaben zur Zahl der Muslime oder der Einwanderer aus muslimischen Ländern. Eine solche Statistik ist aus Gründen einer religiösen oder ethnischen Diskriminierung verboten.

Niemand weiß darum, ob in Frankreich (bei einer Gesamtbevölkerung von 65 Millionen) zwei, vier oder sechs Millionen Muslime leben und wie viele von ihnen mehr oder weniger ihre Religion praktizieren.

Abneigung nimmt zu

Die Demografin Michèle Tribalat beschreibt in ihrem jüngsten Buch, „Assimilation: la fin du modèle français“, wie die traditionelle Integrationspolitik vor dieser neuen Aufgabe versagt. Sie kommt in ihrer Forschung zu dem Schluss, dass – wie in anderen Ländern auch – in Frankreich die Zahl der muslimischen Gläubigen maßlos überschätzt werde und zugleich rassistische Vorstellungen im Vormarsch sind. Auch eine Untersuchung der Nationalen Konsultativkommission für die Menschenrechte bestätigt, dass in Frankreich die Abneigung sowohl gegen Juden als auch gegen Muslime stark zugenommen hat. Siehe Houellebecq-Bericht, S. 21

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2015)

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