Interview: „Al-Qaida weiß, dass sie den Islamischen Staat nur im Westen toppen kann“

(c) imago/M�ller-Stauffenberg (imago stock&people)
  • Drucken

Der Extremismus-Forscher Peter Neumann rechnet 2015 mit weiteren Anschlägen – auch, weil die Jihadisten ihre Strategie geändert haben.

Die Presse: Nach dem Anschlag in Frankreich haben radikale Muslime im Internet bereits weitere Attentate in Europa angekündigt. Hat sich die Anschlagsgefahr weiter verschärft?

Peter Neumann: Im Jahr 2015 sind weitere Anschläge zu erwarten. Das hängt mit einem Strategiewechsel zusammen: In den letzten zehn bis 15 Jahren haben die Jihadisten sehr komplexe Attentate versucht, die der Vorbereitung bedurften und sehr viele Leute involviert haben, die dann häufig schief gegangen sind oder von der Polizei verhindert werden konnten. Im letzten Jahr wurde – auch ganz explizit auch von einem der Sprecher des Islamischen Staates (IS) – gesagt: Führt kleine Sachen durch, damit könnt ihr genauso viel Terror und Panik verursachen wie mit größeren Anschlägen. Seitdem hatten wir Ereignisse wie jene in Ottawa, in Sydney. Davon wird es mehr geben, weil sie zum einen nicht verhindert werden können und zum anderen so leicht durchzuführen sind.

Sie haben den IS erwähnt. Laut Augenzeugen sollen sich die Täter in Frankreich aber zur al-Qaida bekannt haben.
Es steht noch nicht fest, welche Gruppe das war. Es gibt Indizien, die deuten auf al-Qaida hin, andere auf den IS. Generell herrscht eine große Konkurrenzsituation zwischen der al-Qaida und dem Islamischen Staat. Der IS ist in der Offensive, er bekommt die ganze Aufmerksamkeit und hat in vielerlei Hinsicht al-Qaida überholt.

Ein Kampf hinter den Kulissen um den spektakulärsten Anschlag?
Al-Qaida ist ganz gehörig unter Druck, eine spektakuläre Attacke zu verüben, um zeigen zu können, dass es sie überhaupt noch gibt. Die Attacke auf die Zeitschrift in Paris würde ins Muster passen. Al-Qaida beschäftigt sich schon seit Langem mit dieser Zeitschrift, und es hat viele Drohungen gegeben. Und sie weiß, dass bei ihren Unterstützern die ganze Sache mit den Karikaturen verhasst ist und eine solche Attacke wahrscheinlich als legitim angesehen wird.

Geht es dabei explizit um Anschläge in Europa?
Sowohl der IS als auch al-Qaida haben zu Angriffen in Europa aufgerufen. Die al-Qaida weiß, dass sie in der islamischen Welt den Islamischen Staat nicht toppen können. Das einzige, womit sie sich PR-mäßig und unter ihren Unterstützern wieder ins Spiel bringen könnte, ist ein spektakulärer Anschlag im Westen. Daran arbeitet eben gerade auch die al-Qaida im Jemen – also eben diese Gruppe, die im Zusammenhang mit dem Anschlag in Frankreich erwähnt wurde.

Die Hauptverdächtigen sind Franzosen. Die Gefahr von solchen Radikalisierungen ist seit Langem bekannt. Warum ist es so schwer, das zu verhindern?
Hier geht es um eine Gegenkultur, der sich junge Leute anschließen, die einen Identitätskonflikt haben und die durch eine Krise gehen. Das ist in allen westlichen Staaten so und betrifft vor allem die Leute in der zweiten und dritten Generation. Diese stellen sich an irgendeinem Punkt die Frage: Wo gehöre ich hin? Sie fühlen sich der Kultur ihrer Eltern nicht mehr zugehörig, aber haben auch das Gefühl, noch nicht richtig in die westliche Gesellschaft zu gehören. Das ist keine Entschuldigung für terroristische Anschläge, aber in vielen Biografien der Anfangspunkt für die Radikalisierung. Wir haben noch in keinem westlichen Staat die Antwort darauf gefunden, wie man das verhindern oder besser bearbeiten kann.

Ist die Lage in Frankreich besonders?
In Frankreich ist dieses Problem ausgeprägter als in anderen Staaten. Es hat die tiefsten Gräben zwischen der muslimischen Minderheit und der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft. Die Spannungen sind schärfer als wir es vielleicht in Deutschland oder Österreich sehen. Und es gibt in Frankreich mit der Rechten eine starke Polarisierung, die so in keinem anderen europäischen Land existiert.

>> Was tun gegen Radikalisierung? Diskutieren Sie mit im Themenforum

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.01.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Außenpolitik

Wie weit darf Satire in einem islamischen Land gehen?

Die türkische Satirezeitschrift "Uykusuz" kommt regelmäßig in Konflikt mit dem politischen Establishment. Ein Besuch in der Redaktion.
Außenpolitik

Ägypten: Der Karikaturist als schneller Kämpfer

Ahmad Makhlouf und Mohammed Anwar sind Ägyptens bekannteste Zeichner.
Senegal
Außenpolitik

"Charlie Hebdo": Gewalttätige Proteste in islamischen Ländern

Pakistan, Senegal, Jordanien, Niger, Türkei: Tausende Muslime haben gegen "Charlie Hebdo" demonstriert. Es gab Verletzte und Tote.
THE NETHERLANDS FRANCE TERROR ATTACKS CHARLIE HEBDO
Medien

"Charlie Hebdo": Schönborn kritisiert "vulgäre Karikaturen"

Die Zeichnungen machen Christentum und den Islam "verächtlich", meint der Wiener Erzbischof. Er erinnert an die "giftige Saat" der Hetzkarikaturen gegen Juden.
Charlie Hebdo“-Ausgabe
Medien

Neues Heft: „Ich bin Charlie – ich will Charlie!“

Nur Femen-Frauen dürfen die Glocken von Nôtre-Dame läuten. Mohammed muss man verkehrt herum sehen. Über das neue, bereits ausverkaufte Satiremagazin.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.