Analyse: Al-Suri und der „Dschihad der Armen“

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Symbolbild(c) REUTERS (� Toru Hanai / Reuters)
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Ein radikaler Ideologe namens Abu Mussab al-Suri hat in einem 1600 Seiten dicken „Appell zum weltweiten islamischen Widerstand“ möglicherweise die Blaupause für eine neue Form des Terrors geliefert.

Es herrscht Erklärungsbedarf nach dem feigen Angriff auf „Charlie Hebdo“. Keine noch so große Provokation kann einen solchen Terrorismus erklären - und schon gar nicht rechtfertigen. Dennoch möchten die von den Ereignissen bestürzten Leute verstehen.

Wie schon 2012, als Mohammed Merah in Montauban und Toulouse zuerst drei Militärs und danach einen Lehrer und drei Kinder vor einer jüdischen Schule erschoss. Merah war kein Einzelfall und kein Einzeltäter, genauso wenig wie die mutmaßlichen Terroristen, die am Mittwoch zwölf Menschen getötet haben. Wieder sind es Franzosen, die auf Mitbürger schießen, die sie als Feinde betrachten. Auch der Hinweis auf religiösen oder politischen Fanatismus greift zu kurz. Dennoch verbirgt sich hinter diesem kriminellen Vorgehen Einzelner die gemeinsame Strategie des „dritten Dschihad“ oder „Dschihad der Armen“.

Die Zeitung „Libération“ hat den Theoretiker oder Chefideologen dieses Kriegs gegen das Abendland ausfindig gemacht. Der 1958 in Aleppo (Syrien) geborene Mustafa Setmariam Nassar alias Abu Mussab al-Suri versteht sich als „Architekt eines globalen Dschihad“. Er war zunächst ein Vertrauter von Osama Bin Laden, ging später aber auf Distanz, weil das Attentat vom 11. September dazu geführt habe, dass Afghanistan verloren ging. Er kritisiert jetzt angeblich auch das Bestreben der Organisation IS, ein Kalifat zu errichten. Seine Theorie, die er 2004 in einem 1600seitigen „Appell zum weltweiten islamischen Widerstand“ formulierte, richtet sich an Sympathisanten in allen Ländern, wo Muslime „unterdrückt und gedemütigt“ als Minderheit leben. Ihnen verspricht er eine Rache.

Er empfiehlt Aktionen gegen muslimische „Verräter“, die in Uniform gegen Jihadisten kämpfen, sowie spektakuläre Aktionen, mit denen Sympathien muslimischer Gläubiger zu gewinnen seien – wie Angriffe gegen Juden oder designierte Feinde (was auf „Charlie Hebdo“ zutrifft). Tatsächlich hat das Vorgehen eines Mohammed Merah, der Brüder Tsarnaev bei ihrem Bombenattentat auf den Marathon in Boston oder auch der vom in Frankreich geborenen Mehdi Nemmouche in Brüssel verübte blutige Anschlag auf das Jüdische Museum Gemeinsamkeiten, die dieser Strategie entsprechen. Ganz im Sinne von al-Suri, dessen Aufenthaltsort unbekannt ist, hat auch der derzeitige Al-Qaida-Chef den Hass auf Frankreich angestachelt: „Frankreich behauptet ein konfessionell neutrales Land zu sein, dabei ist sein Herz voller Hass auf die Muslime.“ Er drohte schon 2009, dafür werde Frankreich büßen.

Seither hat Frankreich mit Interventionen in Mali und Zentralafrika und mit der Beteiligung an Angriffen auf IS im Irak den Kampf gegen islamistische Terroristen verstärkt. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Im November rief ein IS-Sprecher zu Mord und Totschlag im Namen des Dschihad auf: „Wenn ihr einen amerikanischen oder europäischen Ungläubigen töten könnt, im Speziellen einen bösen und dreckigen Franzosen, dann könnt ihr auf Allah zählen. Tötet sie, wie immer es geht.“ Jetzt weiß man, es gab Leute in Frankreich, die das beim Wort nahmen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.01.2015)

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