Die größte Prüfung für Europa wird der Islamismus

Die Gesellschaft radikalisiert sich. Die Mitte, Hort von Wohlstand und Ausgleich, wird sozial, ideologisch und religiös zerrissen. Verliert die Vernunft?

„Charlie Hebdo“ hat provoziert. Das Wandeln an Grenzen der Pietät hat in Europa Tradition. Es irritierte, verärgerte und wurde im besten Fall nicht ernst genommen. Doch jetzt dominiert der Ernst. Der blutige Anschlag auf das französische Satiremagazin und die Reaktionen darauf zeigen, wie fragil unsere bisherigen Grundsätze durch die realen Gefahren des radikalen Islamismus geworden sind. Der rechtsnationale Front National, der in Frankreich spielerisch von Wahlsieg zu Wahlsieg gleitet, fordert anlässlich des Anschlags die Wiedereinführung der Todesstrafe. Fast beiläufig werden erkämpfte Rechte – wie jenes auf Leben – infrage gestellt.

Der Islamismus als Phänomen religiöser Radikalisierung wird zu Europas größter gesellschaftlichen Prüfung seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Gewaltbereitschaft und Radikalität einer wachsenden Gruppe von Moslems attackieren mehr als nur die Pressefreiheit. Sie greifen den Zusammenhalt einer christlich-jüdisch ausgerichteten Gesellschaft an. Denn sie stellen ein Wertesystem infrage, das auf Ausgleich, strenge Trennung von Staat und Religion, friedliches Nebeneinander ausgerichtet ist. „Komm, schlag doch zu. Wehrt euch!“, lautet die Provokation dieser Attentäter. Zuerst waren es nur rechtsextreme, später rechtsnationale Gruppen, heute wird dieser Fehdehandschuh von Vertretern aus der Mitte der Gesellschaft aufgenommen.

Verzweifelt hat die deutsche Bundeskanzlerin in ihrer Neujahrsansprache einen Aufruf zur Isolation von Pegida, der neuen islamfeindlichen Protestbewegung, gefordert. Die Kirchen schlossen sich diesem Aufruf an. Aber es gehen bereits Tausende auf die Straße, sind bereit, sich zu wehren. In Paris rief die Regierung zur Ruhe auf. Aber nicht erst seit dem Attentat auf „Charlie Hebdo“ brodelt es in der französischen Gesellschaft.

Nicht nur Politikern wie Merkel ist bewusst: Der radikale Islamismus gepaart mit wirtschaftlicher Unsicherheit führt zur Erosion der politischen Mitte. Längst gibt es eine Wertedebatte, die sich von den Stammtischen in die Vortragssäle und politischen Feuilletons verlagert hat. Argumentativ ausgefeilte Thesen wie von Theo Faulhaber („Der Islam ist anpassungsunfähig“) oder von Thilo Sarrazin („Die Gesellschaft wird durch Zuwanderung dümmer“) unterfüttern ein Unbehagen, das bisher lediglich aus simplen Emotionen bestand.

Der radikale Islamismus ist mehr als ein Sicherheitsproblem. In seiner Primitivität und Gewalt provoziert er unbedachte Reaktionen. So gibt es eine wachsende Zahl von Politikern und Publizisten, die diese Provokationen aufgreifen, sie für ihr Heischen nach schnellem Applaus instrumentalisieren. Wenn der Autor Michel Houellebecq in seinem neuesten Roman das Horrorbild eines muslimischen Staats mitten in Europa an die Wand malt, kann er mit hohen Verkaufszahlen rechnen. Er trägt gleichzeitig aber dazu bei, dass die aktuelle Hilflosigkeit traditioneller politischer Parteien als gegeben hingenommen wird.

Sind sie hilflos? Jedenfalls verstärkt sich der Eindruck, dass die politische Mitte in Europa keine Antworten mehr hat. Sie konnte dem sozialen wie ideologischen Auseinanderdriften während der Krise nichts entgegensetzen. In der Europäischen Union, der großen gemeinsamen Bühne, verabschiedete sie sich von ihren Visionen von Wohlstand, Zusammenhalt und Freiheit und wechselt zu einer reinen Anlasspolitik. Automatisch bekamen radikale politische Kräfte am linken und rechten Rand Aufwind. Europa ist von innen, aber auch von außen angreifbar geworden.

Gemeinsame Erfolge wie offene Grenzen, die Reisefreiheit werden infrage gestellt. Die Aufnahmekriterien für verfolgte Menschen werden verschärft. Sind das wirklich die richtigen Antworten, um Europas Wertesystem zu retten? Wollen wir all die Intoleranz radikaler Gruppen in einer europäischen Antwort widerspiegeln? Oder wollen wir mit aller Härte unsere rechtsstaatlichen Mittel einsetzen, um uns auf glaubwürdige Weise zur Wehr zu setzen?

Es ist eine große Prüfung. Wenn es nicht gelingt, Antworten auf die aktuellen Bedrohungen zu finden, wird nach der politischen Mitte auch die gesellschaftliche Mitte ihren Mehrheitsanspruch verlieren. Das wäre das Ende der Vernunft.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.01.2015)

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