Stereotype: Zügellos feiern, zügellos töten?

Warum der Balkan viele Westeuropäer gleichzeitig abschreckt und fasziniert.

Der durchschnittliche Balkanbewohner isst schon zum Frühstück gegrillte Kinderherzen, fällt mit dem Beil über seinen Nachbarn her, und das Wort „Säubern“ kennt er nur im Zusammenhang mit „ethnisch“. Abgesehen davon kann man mit ihm aber eine Menge Spaß haben, denn er versteht es zu feiern: Schlägt unter zünftigen Blechrhythmen seine Zähne in ganze gegrillte Schafe oder Schweine und säuft dazu Sliwowitz aus der Literflasche.

Pulverfass und Schlendrian; zügelloses Feiern, aber auch zügelloses Töten; Chaos und unbändige Leidenschaft. In Summe „barbarische“ Zustände, dem „zivilisierten“ Westen entgegengesetzt. So könnte man die westeuropäischen Balkanstereotype zusammenfassen – ein Repertoire, das bereitstand, als Jugoslawien Anfang der 90er-Jahre blutig zerbrach. Nur langsam wichen sie einem anderen Balkanbild: dem einer kulturell noch ursprünglichen Region.

Der „edle Wilde“ vom Balkan

Besonders die Musik wurde zum Botschafter des neuen Balkanbilds. „Balkanmusik“: ein alles- und nichtssagendes Label, das so unterschiedliche Formen wie trompetenblasende Hochzeitsorchester und Genregrenzen sprengende Projekte wie DJ Shanels „Bukowina Club Orchester“ umfasst. Es waren die Filme Emir Kusturicas, die vor 15 Jahren eingefleischten Cineasten erstmals Klänge vom Balkan auftischten.

Heute hat sich diese Musik einen festen Platz in urbanen Veranstaltungsorten erobert, ja sogar eigene stimuliert: etwa den „Ostklub“ in Wien. Als „zarten Mainstream“ bezeichnet Betreiber Matthias Angerer den Balkanmusikboom, und er möchte ihn positiv verstanden wissen: als kulturelle Zurkenntnisnahme und musikalische Erneuerung, ja sogar als Gegenbewegung zum „abgelutschten angelsächsischen Musikdiktat“, wobei Attribute wie Lebenslust, Authentizität, Feuer und Wildheit keine exotisierenden Projektionen darstellen: „Diese Musiker spielen sich die Seele aus dem Leib und packen das Publikum“, sagt Angerer, „und das ohne chemische Hilfsstoffe.“

Alojz Ivani?evi?, Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Uni Wien, kommt bei der Begeisterung für den „authentischen“ Balkan die „Verherrlichung des edlen Wilden“ in den Sinn. Und nicht überall, wo Authentizität draufsteht, ist auch welche drin: „Sogar auf Ö1 wird manchmal Musik vom Balkan als „original“ präsentiert, die bei uns im Musikantenstadel laufen würde.“ Und wenn ein privater Wiener TV-Sender neue volkstümliche Musik als „gemeinsame jugoslawische Kultur“ verkaufe, bestehe die Gefahr, dass dadurch gerade wieder ein primitives Balkanbild vermittelt werde, meint Ivani?evi?.

Und was, wenn eine westliche Band „auf Gipsy macht“, wie Angerer ironisiert, wie etwa die schwedische „Balkanband“ Östblocket? Ist das die Auflösung der Klischees vom Südslawen als dumpfem Gastarbeiter oder nur ein rücksichtsloses Plündern im balkanischen Musikarchiv, inklusive „Verfeinerung“ für westliche Club-Ohren?

Balkan, das sind die anderen

Was aber können die Bewohner der Region mit dem Begriff Balkan anfangen? Je weiter nördlich und westlich man fragt, desto stärker gilt die Devise: „Der Balkan, das sind die anderen.“ Die man im Vergleich zu sich selbst für primitiv hält. Oder, wie es Ale? Debeljak, Professor für „Cultural Studies“ an der Uni Ljubljana formulierte: „Wo der Balkan beginnt, hängt davon ab, wo man steht.“ Die Grenze zwischen Chaos und Zivilisation verschiebt sich nach Südosten: In Slowenien stößt man auf blanke Entrüstung, wenn man das Land zum Balkan rechnet. Die Kroaten wiederum zeigen auf Serbien.

„Balkan bedeutet, du machst alles verkehrt“, erläutert ?arko Puhovski, Chef des Zagreber Helsinki-Komitees, im Interview mit der Internetplattform „The Balkans Project“. Gerade die Ablehnung des Wortes kann aber auch ein Gradmesser für „Balkanität“ sein, meint Historiker Ivani?evi?: „In Kroatien lehnen etwa gerade jene Kreise den Begriff ,Balkan‘ am meisten ab, die ihm am stärksten entsprechen: provinzielle, extrem rechte Kräfte, die einen kroatischen Sonderweg außerhalb der EU befürworten.“ So richtig kompliziert wird es bei den bosnischen Kroaten, sagt Ivani?evi?: „Sie zählen paradoxerweise Bosniens Serben und Muslime kulturell zum Balkan, sich selbst aber nicht.“

In Serbien pflegt man ein liebevoll-ambivalentes Verhältnis dazu. Den abenteuerlichen Kostenvoranschlag für eine Langstreckentaxifahrt kommentiert ein Belgrader Freund nur achselzuckend: „Balkanska matematika.“ Und wenn es einmal nicht so läuft, wie es soll, sagt man schicksalsergeben: „Wir sind nun mal am Balkan.“ Am besten können sich die Bulgaren mit dem „Balkan“ anfreunden. Kein Wunder, beherbergt man doch den Namensgeber, das Balkangebirge.

Von Serben und Einhörnern

Für den Westen wurde es Anfang der 90er richtig unübersichtlich. Früher waren „die da unten“ alle irgendwie Jugoslawen. Nun galt es, zu unterscheiden. Das sah dann beispielsweise so aus: Hier die guten Slowenen und Kroaten, dort die bösen Serben. „Opfer“ dieser Schwarz-Weiß-Malerei wurde auch der serbische Schriftsteller Dragan Veliki?, heute Botschafter in Wien: Im Klappentext seiner Bücher verfolgte ihn der Satz: „Aufgewachsen in Kroatien“, was ja der Wahrheit entsprach. „Zweifelsohne sollte dieser Hinweis dem deutschen Publikum eine Erklärung dafür bieten, dass ich, obwohl Serbe, ein zivilisierter Mensch bin“, schrieb Veliki? 2005.

Das Schlimmste, was vielen westlichen Medien da passieren konnte, waren die Anti-Milo?evi?-Demos vom Winter 1996. Veliki?: „Wie sollten sie nun ihrer Öffentlichkeit erklären, dass in Serbien 1,5 Millionen zivilisierte Bürger protestieren, wenn dieselben Medien bis zu diesem Zeitpunkt das Bild eines Serbien gezeichnet haben, in dem zivilisierte Bürger etwa so häufig sind wie Einhörner?“ ?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2009)

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