Winston Churchill: Personifizierte Ambivalenz

Annäherung eines Sozialdemokraten an den Kämpfer gegen die Nazis, europäischen Visionär und herausragenden Staatsmann.

Winston Spencer-Churchill, diese Jahrhundertfigur: Das 70-jährige Jubiläum des Kriegsendes wird nicht ohne ihn, den unbeugsamen Kämpfer gegen Nazi-Deutschland, auskommen. Soll es auch gar nicht. Viel zu bedeutend war sein Handeln als Premierminister, viel zu interessant seine Lebensgeschichte, viel zu umfassend das literarische Werk des homme de lettres – und viel zu rätselhaft die Ambivalenzen, die sich bei ihm offenbarten.

Churchill, der heute vor genau 50 Jahren in London verstarb, war die personifizierte Kontradiktion, sein politisches Leben war voller Widersprüche: Er hat jahrelang die Kürzung des Wehretats vorangetrieben, später war er ein vehementer Verfechter der Aufrüstung.

Als Nachkomme der berühmten Malborough-Dynastie spottete er über die Aristokratie, wenn es ihm politisch opportun erschien. Dem italienischen Duce brachte er zuerst Sympathie entgegen, später hat er ihn eisern bekämpft. Er war stets ein Verfechter von Humanität und Freiheit, genehmigte aber auch Bombenangriffe auf deutsche Städte, um die Moral der Zivilbevölkerung zu brechen.

Moderner Sozialpolitiker

Widersprüchlich ist auch seine Haltung zur Sozialpolitik. Churchill war Zeit seines Lebens ein Gegner der Sozialisten, die als Labour-Partei Anfang des 20. Jahrhunderts immer mehr Zuspruch auf der Insel bekam. 1924 trat Churchill, der mehrmals die Partei wechselte und nur sich selbst und seiner politischen Karriere treu war, bei einer Nachwahl sogar mit einer eigenen Liste namens „Unabhängiger Anti-Sozialist“ an, bei der späteren regulären Wahl als „Unabhängiger Konstitutionalist und Anti-Sozialist“.

Dennoch war es Churchill, der als junger Handelsminister zwischen 1908 und 1910 in der von den Liberalen geführten Regierung gemeinsam mit dem damaligen Schatzkanzler Lloyd George eine moderne Sozialpolitik in Großbritannien etablierte. Die „radikalen Zwillinge“ kämpften für die Arbeiterklasse.

Churchill sah den Aufstieg des Sozialismus voraus und wusste, dass dem die traditionellen Parteien nur etwas entgegensetzen konnten, wenn sie die Lebensverhältnisse der Arbeiter verbessern würden: Arbeitslosenversicherung, Arbeitsämter, Arbeitszeitverkürzung und Mindestlohn wurden eingeführt.

Die bekannte Sozialistin Beatrice Webb sagte damals: „Lloyd George und Winston Churchill haben praktisch das Rampenlicht gestohlen, nicht nur von ihren Kabinettskollegen, sondern auch von der Labour-Partei. Sie ragen heraus als die fortschrittlichsten Politiker.“

Die Einführung dieser wichtigen sozialen Maßnahmen hinderte die englische Arbeiterklasse aber nicht daran, Churchill noch Jahrzehnte später mit Antipathie zu begegnen. Als Innenminister, der er 1910 wurde, war er verantwortlich für das harte Einschreiten der Polizei gegen Bergarbeiter, die nahe der walisischen Stadt Tonypandy für bessere Arbeitsbedingungen streikten.

Nichtsdestotrotz war Labour 1940 entscheidend daran beteiligt, den mittlerweile „alten Hasen“, der bereits mehr oder weniger erfolgreich alle bedeutenden Ministerressorts der britischen Politik innegehabt hatte, zum Premierminister zu machen. Wie kam es dazu?

Churchill hatte jahrelang gegen Adolf Hitler gewettert und auf die Gefahr, die von Nazi-Deutschland ausgehen würde, hingewiesen. Er hatte sich damit gegen den politischen Mainstream gestellt, der die Bedrohung Deutschlands herunterspielte und eine Bewahrung des Friedens auf der Insel durch eine Appeasement-Politik gewährleistet sah. In einer berühmten Unterhausrede 1936 hatte Churchill den regierenden Politikern sinngemäß vorgeworfen, darauf zu warten, bis die Heuschreckenschwärme das Land befallen würden.

Die besseren Karten

Nach dem deutschen Einmarsch in Polen konnte Baldwins Nachfolger, Neville Chamberlain, gar nicht anders, als Churchill wieder als Marineminister in die Regierung zu holen: Er war es, der immer davon gesprochen hatte, was eingetreten war: eine von Nazi-Deutschland ausgehende Aggression.

Als Neville Chamberlain Anfang Mai 1940 einsah, dass er nicht mehr imstande war, eine Regierung zu bilden, waren zwei Kandidaten als Nachfolger im Gespräch: Außenminister Lord Viscount Halifax und Marineminister Winston Churchill. Letzterer hatte bessere Karten, da Lord Halifax als Mitglied des Oberhauses kaum im Unterhaus auftreten konnte.

Labour war zu diesem Zeitpunkt das Zünglein an der Waage. Am Abend des 9. Mai 1940 einigten sich Labour-Chef Clement Attlee und sein Stellvertreter Arthur Greenwood darauf, Churchill zu unterstützen. Sie schätzten seine bedingungslose Abneigung gegen Nazi-Deutschland, das auch Sozialdemokraten verfolgen, einsperren und ermorden ließ und nun die Freiheit Großbritanniens bedrohte. Und sie wussten, dass der erfahrene und von großem Selbstbewusstsein geprägte Politiker in einer der schwersten Stunden in der Geschichte des Landes alternativlos war.

Überspitzte Rhetorik

Nur fünf Tage später, am 14. Mai, bildete Churchill eine Regierung, bestehend aus allen Parteien. Attlee und Greenwood gehörten dem stark geschrumpften Kriegskabinett an, Attlee sogar als stellvertretender Premierminister. Beide standen Churchill auch in dessen anfänglicher Auseinandersetzung mit Lord Halifax zur Seite.

Mit seiner kämpferischen, klaren und überzeugenden Argumentation, die von überspitzter Rhetorik getragen war, gelang es Churchill allerdings sehr bald, nicht nur die volle Unterstützung seines Kriegskabinetts zu erlangen, sondern auch jene des gesamten britischen Volkes.

Die kommenden fünf Kriegsjahre sind Geschichte und mehrfach detailgenau, auch dank Churchills literarischem Werk, erzählt. Natürlich waren es die USA und die Sowjetunion, die hauptverantwortlich dafür waren, dass Deutschland militärisch besiegt wurde. Aber als England lange allein dastand gegen Wehrmacht und SS, zeigte sein Volk und seine Soldaten Moral und hohe Widerstandskraft. Churchills größter Verdienst ist es jedoch, die USA zuerst zur Aufrüstung und schließlich mittels der transatlantischen Partnerschaft soweit in den Krieg „zu verwickeln“, dass es kein Heraushalten mehr gab.

Voraussicht und Führungskraft

Wir würden heute nicht in einer demokratischen, freien Welt leben, hätte es Winston S. Churchill und sein Handeln als Premier nicht gegeben. Aber auch nach dem Krieg setzte er Meilensteine. Er prägte den Begriff des „Eisernen Vorhangs“, und als Europa 1946 noch in Trümmern lag und die schmerzhaften Wunden, die Deutschland aufgerissen hatte, noch frisch waren, sprach er in seiner Zürcher Rede von der notwendigen Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland; auch skizzierte er die „Vereinigten Staaten von Europa“ als Friedensprojekt.

Seine Voraussicht, seine Führungsstärke während des Zweiten Weltkrieges, seine brillanten Reden und sein literarisches Werk machen diese Symbolfigur des Antifaschismus zum bedeutendsten Staatsmann des 20. Jahrhunderts.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Mag. Stefan Hirsch
(*7. März 1975 in Wien) ist Büroleiter der Kanzleramts-Staatssekretärin Sonja Steßl. Davor war er Kommunikationschef der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) sowie mehrere Jahre Pressesprecher in der Bundesregierung. Hirsch studierte Kommunikations- und Politikwissenschaft an der Uni Wien. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2015)

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