Aspern: Nicht Stadt, nicht Land

Barbara Goesch (65) auf dem Balkon ihrer Eigentumswohnung. Sie und ihre Lebensgefährtin waren die ersten Bewohner in der Seestadt Aspern.
Barbara Goesch (65) auf dem Balkon ihrer Eigentumswohnung. Sie und ihre Lebensgefährtin waren die ersten Bewohner in der Seestadt Aspern. (c) Stanislav Jenis
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Seit vier Monaten wohnen die ersten Bewohner in der Seestadt Aspern. Ein Bericht über Nachbarschaftshilfe, das Gefühl, fast auf dem Land zu leben, und fehlende Infrastruktur.

In den ersten Wochen hat Klaus Schindler manchmal ein komisches Gefühl beschlichen. Ein bisschen wie in einem „schlechten Horrorfilm“ sei es gewesen, wenn er abends durch die Seestadt Aspern gegangen ist. „Wir waren halt das einzige fertige Haus“, sagt er. Rundherum nur die verlassene Baustelle.

Seit rund vier Monaten leben in der Seestadt Aspern die ersten Bewohner. Für das enorme Bauprojekt ein Meilenstein: Damit ist die Seestadt vom gut gezeichneten Plan zum realen Wiener Stadtteil geworden. Die Stadtentwickler haben dabei nichts dem Zufall überlassen, schon Jahre vor der Fertigstellung wurden auf der Baustelle Kulturevents abgehalten, um eine junge, urbane, gut gebildete Zielgruppe nach Aspern zu lockern. Die ersten Bewohner wurden marketingtechnisch als „Pioniere“ bezeichnet. Ein eigenes Stadtteilmanagement soll die Bildung sozialer Netze fördern und den Bewohnern beim Einleben helfen.

Bewohnern wie Klaus Schindler und seiner Nachbarin Barbara Goesch. Die 65-Jährige und ihre Lebensgefährtin waren die Ersten, die in das erste fertige Wohnhaus in Aspern gezogen sind. Ende September 2014 war das. „Ich bin noch immer total zufrieden mit der Entscheidung“, sagt Goesch, während sie in ihrem großen, lichtdurchfluteten Wohnzimmer sitzt. Ihre Wohnung liegt in einem der wenigen Häuser mit Eigentumswohnungen. Geplant haben es die Bewohner selbst, in der Baugruppe „Jaspern“. Im Haus gibt es mehrere Gemeinschaftsräume und eine riesige Dachterrasse. Jede Wohnung ist nach den Wünschen der Bewohner anders aufgeteilt.

Rund um das Haus ist freilich noch immer Baustelle. Wer nach Aspern fährt, braucht eine halbe Stunde mit der U2 von der Station Volkstheater bis zur Endstation Seestadt. Der Wind bläst oft stark über die weite Wiese dahinter, an deren Ende sich die Hochhäuser von der Seestadt abheben. Bis 2030 sollen 20.000 Menschen in der Seestadt wohnen, es ist eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas.

Unter der Woche herrscht reges Leben in der Seestadt. Kräne heben Lasten hoch, Fenster werden eingesetzt und wer Pech hat, wird morgens dadurch aufgeweckt, dass die Kranscheinwerfer direkt ins Schlafzimmer leuchten. „Es ist spannend zu sehen, dass sich jeden Tag etwas Neues entwickelt“, sagt Goesch. Ein Satz, der immer wieder von den Bewohnern zu hören ist. Der Baustellenlärm wird kaum als Problem empfunden. Wer Kinder hat, erzählt davon, wie sie sich begeistert Lastwagen, Kräne und Bagger ansehen.

Ein Candy-Shop sperrt auf

Schwieriger sei da schon das Einkaufen. „Ohne Auto geht im Moment nichts“, sagt Barbara Goesch. Eigentlich als die Stadt „der kurzen Wege“ vermarktet – also autofrei und voll alternativer Fortbewegungsmittel –, ist man in Aspern mehr als im Rest von Wien im Moment noch vom Auto abhängig. Einmal pro Woche fährt Goesch mit ihrer Partnerin zum Großeinkauf nach Stadlau. Der nächste Supermarkt ist einen Kilometer entfernt. Zwar gibt es auf der Baustelle auch einen Minimarkt in einem Container, der hat aber nur das Notwendigste. Warum das erste Geschäft, das in Aspern eröffnet hat, ein Bonbonladen ist, kann sich Goesch auch nicht ganz erklären. „Ich halte das für eine Fehlplanung“, sagt sie.

„Es ist schon extrem weit, um in die Stadt zu fahren“, erzählt auch Goeschs Nachbar Klaus Schindler, der die ersten Wochen in Aspern rückblickend als „Durststrecke“ bezeichnet. Auch zu wenige Parkplätze gebe es in der Seestadt. „Und die, die es gibt, sind unpackbar teuer.“ Dafür sei man gleich im Grünen. „Es ist ein Kompromiss, den man eingehen muss.“

Schindler wohnt zwei Stockwerke unter Goesch und ist Vater einer kleinen Tochter. Das Mädchen kam im November auf die Welt. Wenige Tage nach dem ersten Baby, das in Aspern geboren wurde. Ein Bub. Er kam direkt im Haus auf die Welt.

Danach wurde mit den Nachbarn angestoßen. Denn was die Infrastruktur in der Seestadt noch an Nerven kostet, mache die Hausgemeinschaft für die Bewohner in Jaspern wieder wett. „Ich habe so etwas noch nie erlebt“, sagt Schindler. Jeder kenne jeden, jeder helfe dem anderen. „Ständig werden E-Mails geschickt: ,hab vom Abendessen noch etwas übrig, hat wer Hunger?‘ oder ,Wer hat eine Bohrmaschine?‘“ Zuletzt sei er mit seinen Nachbarn laufen gegangen, nachdem er spontan ein E-Mail verschickt hatte.

Kindergruppe organisiert

Auch im Nachbarhaus ist die Stimmung gut. „Im Erdgeschoß haben wir jetzt selbst eine Kindergruppe organisiert, weil der Kindergarten noch nicht offen hat“, erzählt Bernadette Schilling. Die Mutter zweier kleiner Kinder gehört schon zur zweiten Bewohnerwelle, die kurz vor Weihnachten nach Aspern gezogen ist. „Natürlich funktioniert vieles mit der Infrastruktur noch nicht, aber darauf konnten wir uns jetzt vier Jahre lang vorbereiten“, sagt sie. Und es sei schön zu wissen, dass „wir das erste Grätzel in der Seestadt sind“. Von hier aus wird sich die Seestadt entwickeln.

Derzeit seien in ihrem Haus noch alle mit dem Einziehen beschäftigt, Ideen für die Gestaltung des Meditationsraums wurden aber bereits entwickelt. Das Haus wurde nämlich von der Baugruppe B.R.O.T.-Aspern gebaut. Das steht für Beten, Reden, Offensein, Teilen. Hier leben Katholiken, Protestanten, Buddhisten, Muslime und gut ein Drittel Menschen ohne Bekenntnis unter einem Dach. „Die Praktizierenden sind aber in der Minderheit“, sagt Schilling. Abends verlassen fühlt sie sich in Aspern nicht. „Es ist schön, auch einmal in der Stadt einsam zu sein“, sagt sie. Und sie schätzt genauso wie ihre Nachbarn die grünen Flächen der Lobau in der Nähe. Das Wohnen in der Seestadt, sagt Schilling, das sei „fast schon, wie aufs Land zu ziehen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.02.2015)

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