Masern, eine Krankheit der Reichen

Impfung
Impfung(c) Teresa Zötl
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Klassendünkel, Esoterik und Autoritätsverlust der Ärzte machen die Impfskepsis zur Gesundheitsgefahr für die gesamte Gesellschaft.

Als die amerikanische Schriftstellerin Eula Biss im Frühling 2009 ihren Sohn zur Welt brachte, ging in den USA die Panik um. Ein neuer Virenstrang der Influenza hatte soeben aus dem Süden von Mexiko kommend die Grenze überquert und begonnen, sich rasend schnell zu vermehren. Priester verabreichten bei der Kommunion die Hostien auf Zahnstochern aufgespießt, um die Ansteckungsgefahr zu mindern. Fluggesellschaften entfernten Pölster und Decken aus den Flugzeugen.

Doch unter den anderen Müttern, mit denen sich Biss über die Frage austauschte, wie sie ihre Kinder vor dieser neuen Gefahr beschützen sollten, gab es zahlreiche, die weniger vor der Krankheit als vor der Impfung warnten. Der neue Erreger H1N1 sei nicht schlimmer als eine leichte Erkältung. Zusatzmittel im Impfstoff hingegen würden Autoimmunkrankheiten oder gar Autismus auslösen. Diese Frauen waren wie Biss überdurchschnittlich gut gebildet und verdienten entsprechend. Sie warfen mit Fachvokabular um sich und verwarfen schulmedizinische Gewissheiten als Propaganda der Pharmakonzerne.

Man muss genau hier beginnen, wenn man die Gründe für den neuen Ausbruch der in den USA offiziell vor 15 Jahren ausgerotteten Masern sucht: in der weißen oberen Mittelschicht.

„Wir haben eine totale Kehrtwende“, warnt die Immunologin Laurie Garrett vom Council on Foreign Relations in Washington. „Als ich in Afrika zu arbeiten begann, waren die Masern dort der Kinderkiller Nummer eins. Sie waren eine Krankheit der Armut, aber jetzt, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, sind sie eine Krankheit des Wohlstandes.“

Dieses Phänomen ist nicht auf Amerika beschränkt. Im Februar und März 2013 brachen in Tirol im Raum Kitzbühel die Masern unter Kindern von Eltern aus, die erklärte Impfgegner waren. „Erstaunlicherweise ist gerade bei Personen mit hohem Bildungsniveau eine große Skepsis gegenüber Impfungen verbreitet“, sagte der Wiener Kinderarzt Rudolf Schmitzberger im Februar 2014 zur „Presse“.

Studien belegen, dass der soziale Status eine wesentliche Rolle dabei spielt, ob Eltern ihre Kinder impfen lassen oder nicht. Eine 2004 im Fachjournal „Pediatrics“ veröffentlichte Auswertung der Daten von 151.720 amerikanischen Kindern legte zum Beispiel offen, dass ungeimpfte Kinder wesentlich öfter weiß sind, eine ältere, akademisch gebildete Mutter haben, die verheiratet ist und deren Haushalt jährlich mehr als 75.000 Dollar verdient.


Eine Frage der Moral. Die Studie zeigte auch, dass Impfgegner besonders häufig in denselben Gemeinden wohnen. Spätestens hier wird eine riskante Entscheidung, die nach Ansicht der Eltern nur ihre eigenen Kinder betrifft, zu einer Gefahr für die Volksgesundheit. Um die Verbreitung der Masern dauerhaft zu unterbinden, müssten 92 bis 94Prozent aller Menschen in einer Gemeinde geimpft sein, sagt Richard Besser, ein früherer Leiter der US-Bundesgesundheitsbehörde CDC. „Es ist aber einfach, in Kalifornien Schulen zu finden, wo 30, 40, 50 Prozent der Kinder nicht gegen Masern geimpft sind. Diese Schulen sind tickende Zeitbomben.“ Der Grund dafür liegt in der sogenannten Herdenimmunität.

Wenn, im Fall der Masern, mindestens 92 Prozent aller Menschen einer Gruppe immun sind, schützen sie die restlichen nicht immunisierten Individuen bildlich gesprochen so, wie sich eine Tierherde um schwache Artgenossen schart. Wenn also zu viele Eltern in einem Bezirk ihre Kinder absichtlich nicht impfen, fördern sie die Ansteckungsgefahr für all jene, die selbst dann nicht geimpft werden können, wenn sie es wollten: und das sind vor allem die Schwächsten, Leukämiekranke zum Beispiel oder Säuglinge.

So wird aus der privaten Entscheidung für oder gegen das Impfen eine moralische Grundsatzfrage: Nutze ich das Allgemeingut der Immunität, ohne selbst dazu beizutragen, im Wissen, dass meine Verweigerung dieses Gut gefährden könnte?

„Impfen wirkt, indem eine Mehrheit zum Schutz einer Minderheit verpflichtet wird“, zitiert Eula Biss ihren Vater, einen Arzt, in ihrem Buch „Immunity: An Inoculation“. Sie hatte sich auf die Suche nach der Antwort auf die Frage gemacht, woher die Skepsis gegenüber dem Impfen rührt.

„Debatten über das Impfen, einst wie heute, werden oft als Debatten über die Rechtschaffenheit der Medizin dargestellt, obwohl sie genauso gut als Konversationen über Macht verstanden werden können“, schreibt Biss. Maßnahmen zur Stärkung der Volksgesundheit seien in den Augen der Oberschicht oftmals nicht für sie selbst bestimmt, sondern für die Ärmeren, Ungebildeten, Zugereisten, denen man einen riskanten Lebensstil unterstelle.


Krank sind die anderen. Als zum Beispiel in den USA die Pocken im Jahr 1898 letztmals landesweit ausbrachen, gab es viele Leute, die meinten, Weiße seien gegen diese hochgefährliche Krankheit immun. „Nigger itch“, „Italian itch“, „Mexican bump“, also „Negerjucken“, Italienerjucken“ und „Mexikanerbeule“ waren einige der damals gebräuchlichen verächtlichen Synonyme für die Pocken.

Ähnliches begab sich im Jahr 1981, als der Impfstoff gegen Hepatitis B eingeführt wurde. Ursprünglich wurde er nur für „Risikogruppen“ empfohlen: Gefängnisinsassen, Homosexuelle, Ärzte und Pfleger sowie Drogensüchtige, die an der Nadel hängen.

Auch der aktuelle Masernausbruch hat ein derartiges Ressentiment emporgespült. Der Neurochirurg Ben Carson, ein möglicher republikanischer Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2016, sagte gegenüber CNN, illegal eingewanderte Zentralamerikaner hätten die Krankheit in die USA eingeschleppt. Doch das ist einfach zu widerlegen: Honduras, Guatemala und Nicaragua haben laut der Weltgesundheitsorganisation WHO Impfraten von rund 93 Prozent – also höhere als jene der USA. In Mexiko, wo die Masern schon im Jahr 1996 für ausgelöscht erklärt wurden, sind es sogar 99 Prozent. „Da trifft Dogma auf empirische Realität“, hält Laurie Garrett vom Council on Foreign Relations dazu fest.

Das Beispiel von Hepatitis B zeigt übrigens besonders klar, wie falsch die Vorstellung ist, Klassengrenzen würden die Keimübertragung stoppen. Erst, als in den USA alle Neugeborenen geimpft wurden, gingen die Ansteckungsraten zurück. „Das Konzept einer Risikogruppe“, zitiert Biss die verstorbene Essayistin Susan Sontag, „erweckt die archaische Idee einer befleckten Gemeinde, die von der Krankheit verurteilt worden ist.“

Eula Biss hält diese elitäre Haltung im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“ für eine Folge des Denkmusters, das in vielen westlichen Industriegesellschaften vorherrscht. „Wir sind trainiert, zu glauben, dass wir besonders sind und besondere Eigenschaften haben. Wir denken also, dass wir durch unser tugendhaftes und abstinentes Verhalten bestimmte ansteckende Krankheiten nicht bekommen.“

Wenn Gesundheit zum Ausdruck des Lebensstils wird, ist Krankheit nicht mehr bloß etwas, das einem passiert. Dann ist der Kranke nicht nur Opfer, sondern Unterlassungstäter. „Das Aufbauen, Stärken und Unterstützen des eigenen Immunsystems ist eine Art kultureller Obsession unserer Zeit“, schreibt Biss in ihrem Buch.

Das führt zurück auf die Spur der Impfgegner. Eines ihrer Argumente lautet, Kinder sollten „auf natürlichem Weg“ gegen Krankheiten wie die Masern immunisiert werden. Biss erinnert daran, dass im Jahr 1900 in Städten wie Chicago jedes zehnte Kind im ersten Lebensjahr starb – lange vor der Erfindung der modernen Impfstoffe, dem Siegeszug der Petrochemie und all jenen Erscheinungen, die einem „natürlichen“ Lebensstil zuwiderlaufen. „Wir scheinen entgegen aller Beweise daran zu glauben, dass die Natur ganz und gar gütig ist“, warnt sie.


Der Arzt als Kellner. Doch Fakten, Studien, Lehrmeinungen taugen nur selten, um Impfskeptiker zu überzeugen. Biss führt das auch auf den allgemeinen Autoritätsverlust zurück: „Der Paternalismus der Ärzte ist durch das Konsumdenken der Patienten ersetzt worden.“ Sie sehen sich dank eigenständiger Recherchen im Internet und anderswo ermächtigt, aus einem Menü von Tests und Therapien auszuwählen; der Arzt wird dann zum Gesundheitskellner. Das hat bei einer Untergruppe der Impfskeptiker die Mode eingeführt, den ärztlich vorgeschriebenen Zeitplan eigenmächtig zu verlängern, um die angeblich überforderten Immunsysteme ihrer Kleinkinder nicht zu „überladen“. „Dafür gibt es genau null wissenschaftliche Belege“, ärgert sich Laurie Garrett. „Jeden Tag steckt sich ein Baby allerlei Zeug in den Mund und ist viel mehr Antigenen ausgesetzt, als ein Arzt ihm je in den Arm spritzen könnte.“

Eula Biss lehnt es dennoch ab, Impfgegner als dumm zu verhöhnen: „Vor allem, wenn damit Frauen unterstellt wird, dass sie ungebildet seien, riecht das stark nach Sexismus.“ Sie habe zudem bei einigen der ursprünglich skeptischen Mütter einen Meinungswandel festgestellt. Fragt man sie selbst, wieso sie ihren Sohn impfen lässt, hat sie eine einfache Antwort parat: „Weil ich ihn so weit wie möglich vor dem Gesundheitssystem verschonen will – vor allem vor den Krankenhäusern.“

Zur Person

Eula Biss (*1977)
unterrichtet literarisches Schreiben an der Northwestern University in Chicago.

Sie hat für ihre Arbeit renommierte Stipendien erhalten, unter anderem jenes der Guggenheim Foundation und des National Endowment for the Arts. Sie hat bisher drei Bücher veröffentlicht, ihre Texte erscheinen unter anderem im „New York Times Magazine“ und in „Harper's“.
www.eulabiss.net

Das Buch

Eula Biss. „On Immunity: An Inoculation.“
Graywolf Press, Minneapolis, 2014
205 Seiten,
18,99 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.02.2015)

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