Ursachen der Eurokrise: Der blinde Fleck der Ökonomen

Two Euro coins are seen in the Austrian Mint headquarters in Vienna
Two Euro coins are seen in the Austrian Mint headquarters in Vienna(c) REUTERS (LEONHARD FOEGER)
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Über die Rolle der EZB wird derzeit erbittert gestritten. Das Großereignis der letzten dreissig Jahre beachtet dabei keiner, wie dieser Beitrag zeigt.

Die Euro-Krise bleibt ein Dauerbrenner. Der Wahlsieg von Syriza und die Ankündigung von Quantitative Easing durch die Europäische Zentralbank befeuert eine Debatte, die seit langem für heisse Köpfe sorgt. Auf der einen Seite wollen vornehmlich deutsche Exponenten eine Rückkehr zu einem traditionellen Kurs mit strikter Trennung von Geld- und Fiskalpolitik. Auf der anderen Seite fordern unter anderem Franzosen, Spanier und Italiener eine aktivere Rolle der Geldpolitik in der Krisenbewältigung. Die Frontlinien in dieser Debatte sind festgefahren, und sie sind historisch bedingt.

Deutsche Bundesbank als Vorbild

Nach den Erfahrungen mit der Hyperinflation der Weimarer Republik hat Deutschland eine Geldpolitik bevorzugt, die eine möglichst zuverlässige Preisstabilität verfolgt. Der deutschen Bundesbank (BuBa) wurde deshalb grosse Unabhängigkeit gewährt – Geldpolitik sollte sich nicht mehr von fiskalpolitischen Überlegungen leiten lassen. Andere Mitglieder der Währungsunion kannten eine solche weitreichende Unabhängigkeit nicht.

In den 1990er Jahren zeigten Makroökonomen dann einen hochsignifikanten Zusammenhang zwischen Zentralbankunabhängigkeit und Preisstabilität auf. Die konstante Abwertung der Lira, Peseten und Francs gegenüber der harten Mark war Zeugnis einer in der europäischen Union unerreichten Preisstabilität der deutschen Währung. Die Geldpolitik der BuBa wurde als ökonomisches Vorzeigemodell geadelt.

Im Zuge der Währungsunion war daher die deutsche Sorge gross, dass die europäische Geldpolitik zu fiskalpolitischen Zwecken missbraucht werden könnte. Letztendlich stimmte die deutsche Regierung einer europäischen Zentralbank (EZB) zu, weil sie nach dem Vorbild der BuBa mit grosser Unabhängigkeit gegenüber den nationalen Regierungen ausgestattet wurde.

Deutschland erhoffte sich damit eine Fortführung der deutschen Geldpolitik auf europäischer Ebene. Die EZB sollte die Geldpolitik komplett unabhängig vom fiskalpolitischen Umfeld betreiben. Bildlich gesprochen bedeutete dies nichts anderes, als dass die nationalen Staaten keinen Zugriff auf die Gelddruckmaschinen haben sollten, selbst wenn sie dadurch Bankrott gehen würden (sogenannte "no bailout"-Klausel).

Die Zäsur der Finanzkrise

Doch die EZB brach ihr Versprechen im Nachgang der Finanzkrise. Im Mai 2010 begann sie, griechische Staatsanleihen zu kaufen. Nur zwei Jahre später kündigte EZB-Präsident Draghi gar unbeschränkte Käufe von Staatsanleihen an, um die Zinsen auf Staatsschulden zu senken. "Koste es was es wolle" ("Whatever it takes"); das waren seine Worte, die Eingang in die Geschichtsbücher finden sollten. Am 22. Januar 2015 setzte die EZB diese Ankündigung mit einem umfangreichen Staatsanleihen-Kaufprogramm tatsächlich um. Die Trennung zwischen Geld- und Fiskalpolitik wird Schritt für Schritt aufgehoben, sehr zum Unwillen von BuBa Präsident Weidmann.

Viele Deutsche fühlen sich nun betrogen und fordern eine Rückkehr zu einer Geldpolitik nach dem Vorbild der BuBa. Sonst, so die Befürchtung, kann die EZB die Preisstabilität nicht aufrechterhalten.

Es ist so, die EZB hat tatsächlich mit den Dogmen der Gründungszeit gebrochen. Mit ihrer derzeitigen Geldpolitik unterstützt sie die Finanzierung von Staatsschulden. Nicht nur das, sie akzeptiert nun auch qualitativ niedrigere Sicherheiten von Banken für Refinanzierungsgeschäfte mit längeren Laufzeiten. Damit übernimmt sie sowohl private als auch öffentliche Kreditrisiken. Dies sind Vorgänge, die wohl vielen Makroökonomen der neunziger Jahre die Haare zu Bergen stehen liessen.

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Dieser Artikel wurde für "Ökonomenstimme", die Internetplattform für Ökonomen im deutschsprachigen Raum, erstellt. Die Presse ist exklusiver Medienpartner der Ökonomenstimme.

Der neue Kurs stellt die Unabhängigkeit der EZB in Frage. Statt lediglich über einen Referenzzinssatz, entscheidet die EZB zunehmend über das Schicksal von Staaten, Banken, Schuldnern und Gläubigern. Dies weckt Begehrlichkeiten seitens der Politik. Eine derart aktive Zentralbank kann ihre Unabhängigkeit auf lange Frist kaum halten, wie das Beispiel von Japan zeigt. Sollte die EZB also zurück zu den Tugenden deutscher Geldpolitik, bevor es zu spät ist?

Geldpolitik in analogen Zeiten

Das Finanzsystem hat sich seit den Zeiten der deutschen Mark weiterentwickelt. Damals zielte eine Zentralbank lediglich einen Referenzzinssatz an, zu dem sich Banken Zentralbankgeld leihen konnten. Je günstiger sich die Banken Zentralbankgeld leihen und als Reserven halten konnten, desto mehr Kredite und Buchgeld konnten Banken schöpfen. Die Buchgeldmenge und die Kreditvergabe der Banken, und nicht etwa die Zentralbankgeldmenge, war ausschlagegebend für das Preisniveau und die Preisstabilität.

Der Zusammenhang zwischen dem Referenzzinssatz, der Buchgeldmenge, und dem Preisniveau wirkt über sogenannte Transmissionsmechanismen. Eine Erhöhung des Referenzzinssatzes macht Zentralbankgeld teurer, dies wiederum drosselt die Kreditvergabe und reduziert die Buchgeldschöpfung der Banken. Damit sinkt das Preisniveau. Eine Senkung des Referenzzinssatzes hat den gegenteiligen Effekt. Dieser Transmissionsmechanismus ist auf traditionelle Banken ausgerichtet. Traditionelle Banken betreiben die Buchgeldschöpfung auf ihrer eigenen Bilanz und benötigen Zentralbankgeld als Reserven.

… und in digitalen Zeiten

Doch mit dem Aufkommen von Informationstechnologien begannen nicht mehr nur traditionelle Banken Geld zu schöpfen. Im Zuge der Digitalisierung kam das sogenannte "shadow banking" auf. Statt Kredite auf ihrer Bilanz zu halten und mit Zentralbankgeld als Reserven zu decken, fingen Finanzinstitutionen an, Kredite zu verbriefen und weiter zu verkaufen. Die Buchgeldschöpfung wurde neu nicht nur von traditionellen Banken, sondern auch von sogenannten Schattenbanken vorgenommen, die nicht direkt mit der Zentralbank verbunden sind.

Diese Art der Buchgeldschöpfung hängt nur noch sehr schwach vom Referenzzinssatz ab. In den Vereinigten Staaten bemerkte etwa der damalige Fed-Präsident Greenspan, dass "sein" Referenzzinssatz (die federal funds rate) merklich an Einfluss eingebüsst hatte. Auch in Europa wurde empirisch nachgewiesen, dass der Transmissionsmechanismus zwischen Referenzzinssatz und Preisniveau nachhaltig geschwächt wurde.

Daraus lässt sich folgern, dass die EZB nicht mehr zurück zu einer Geldpolitik nach dem Vorbild der BuBa gehen kann. Will sie effektiv Einfluss auf das Preisniveau nehmen, muss sie heutzutage den Referenzzinssatz um weitere Instrumente ergänzen. Durch Quantitative Easing kauft sie verbriefte Kredite von privaten und öffentlichen Schuldnern auf und erhöht damit die Geldmenge direkt. Durch flexiblere Fazilitäten kann sie längerfristige Kredite vergeben und eine weitere Bandbreite an Sicherheiten akzeptieren. Damit erhöht sie ihren Einfluss auf die Geldschöpfung durch Schattenbanken.

Mit diesen neuen Instrumenten kann die EZB effektiver gegen deflationäre Tendenzen vorgehen. Sie gehen jedoch mit erheblichen Kredit- und Zinsrisiken einher und zwingen die EZB, in wirtschaftspolitischen Feldern ausserhalb der Geldpolitik aktiv zu werden. Es ist kein Zufall, dass die europäische Bankenaufsicht bei der EZB angesiedelt ist, und dass sie als Teil der Troika wirtschaftspolitische Massnahmen von Eurostaaten überwacht, die in finanzielle Schieflage geraten sind. Als wichtige Gläubigerin, die erheblichen Kreditrisiken ausgesetzt ist, kommt die EZB um diese Verantwortung nicht mehr herum.

Das Versagen der Bankenregulierung

Zusätzlich zu den neuen Formen der Buchgeldschöpfung hat die digitale Revolution weitere geldpolitische Probleme geschaffen. Seit dem Aufkommen von Informationstechnologien nutzten Banken diese, um unliebsame Regulierungen zu umgehen. Mit ausgeklügelten Eigenkapitalvorschriften (Basel I und Basel II) versuchten Bankenregulierer dieser Tendenz entgegenzuwirken – ohne Erfolg. Diese Vorschriften hatten jedoch den Nebeneffekt, dass sie Allokationsentscheidungen der Banken verzerrten, etwa indem sie sie zu Staatsanleihenkäufen ermutigten.

Das Versagen der Bankenregulierung und die daraus resultierende Finanzkrise zwang die EZB, ihr Gründerprinzip des "no bailout" über Bord zu werfen. Banken mit hauchdünnen Kapitaldecken wurden zu den wichtigsten Gläubigern der Staaten in der Eurozone. Verluste auf Staatsanleihen würden dieses Eigenkapital in Windeseile eliminieren, und die Banken in die Insolvenz zwingen. Insolvente Banken müssten die Buchgeldschöpfung einstellen, was eine drastische Deflation zur Folge hätte.

Die EZB hat ihr "no bailout"-Versprechen also nicht nur aus Mitleid mit Politikern gebrochen, sondern auch um ihr Mandat der Preisstabilität zu erfüllen. Die Angst war gross vor einer europaweiten Bankenpanik mit katastrophalen Folgen für den wirtschaftlich bereits arg gebeutelten Kontinent.

Mit der Abkehr vom "no bailout"-Prinzip konnte die EZB in der kurzen Frist den Absturz in eine durch eine Bankenpanik verursachte Deflationsspirale verhindern und die Preisstabilität aufrecht erhalten. Aber durch die unselige Verquickung von fragilen Bankbilanzen mit exzessiven Staatschulden werden Fiskal- und Geldpolitik eng miteinander verzahnt.

Das fiskalpolitische Vabanque um Griechenland veranschaulicht dieses Dilemma. Die EZB hält inzwischen grosse Anteile an griechischen Staatsanleihen und würde durch einen Schuldenschnitt herbe Verluste erleiden. Zusätzlich ist sie die einzige Institution, die eine sich bereits abzeichnende Bankenpanik in Griechenland noch verhindern kann, indem sie den griechischen Banken Zugang zur "emergency liquidity assistance" (ELA) gewährt. Sie spielt die Schlüsselrolle in dieser griechischen Tragödie.

Der Finanztanker in gefährlicher Schieflage

Die traditionelle Trennung von Geld- und Fiskalpolitik nach dem Vorbild der BuBa, von den Ökonomen über Jahrzehnte gepredigt, ist Geschichte. Den "deutschen Ajatollahs der Ordnungspolitik" muss bewusst sein, dass eine geldpolitische Reise in die Vergangenheit im heutigen digitalisierten Bankensystem katastrophale Folgen haben würde. Die daraus resultierende Panik auf den Finanzmärkten hätten nicht ein reinigendes Gewitter, wie sich manche erhoffen, sondern einen zerstörerischen Sturm zur Folge.

Auf der anderen Seite sollte den Anhängern einer allmächtigen Zentralbank die drastischen Folgen der heutigen Geldpolitik bewusst werden. Die EZB gibt Stück für Stück ihre Unabhängigkeit preis und wird zum Spielball politischer Interessen. Langfristig kann das nicht gutgehen. Leider reicht vielen Anhängern der derzeitigen Geldschwemme die Begründung, dass sie alternativlos ist. Doch alle Prinzipien über Bord zu werfen um das sinkende Schiff zu retten, wird den Untergang höchstens verzögern, nicht verhindern. Der Finanztanker ist längst leckgeschlagen. Der Sturm, der das Schiff irreparabel beschädigt hat, war das Grossereignis der letzten dreissig Jahren: die digitale Revolution.

Die digitale Revolution stellt einen Paradigmenwechsel dar, der noch nicht in der Debatte um die Geldpolitik und Finanzmarktregulierung angekommen ist. Durch Informationstechnologien konnten Banken die Geldschöpfung von ihren Bilanzen loslösen. Dadurch verlieren sowohl die Referenzzinssätze der Zentralbanken als auch die Eigenkapitalvorschriften für Banken ihre Wirkung. Beide Tatsachen werden in der derzeitigen Debatte noch zu wenig ernst genommen.

Es gilt die Diskussion auf einen zeitgemässen Kurs zu bringen. Um Auswege aus der Euro- und Finanzkrise zu finden, müssen überkommenen Vorstellungen abgelegt werden. Die ökonomische Gemeinschaft tut gut daran, gemeinsam die entscheidende Frage anzugehen: Wie soll ein Finanzsystem im digitalen Zeitalter organisiert werden, damit die Realwirtschaft wieder auf effiziente und nachhaltige Weise mit Geld und Kredit versorgt wird?

Der Autor hat diesen Artikel zusammen mit einem Investmentbanker verfasst. Unter dem Pseudonym Jonathan McMillan haben sie vor kurzem das Buch The End of Banking: Money, Credit, and the Digital Revolution veröffentlicht. Der vorliegende Text stellt ihre persönliche Meinung und nicht notwendigerweise die Meinung ihrer Arbeitgeber dar.

Der Autor

Jürg Müller ist seit 2014 auf der Wirtschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung zuständig für ökonomische Fragen zu den Themenschwerpunkten Finanzsystem und Digitalisierung. Von 2010 bis 2014 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ETH Zürich, wo er eine Dissertation über die makroökonomische Bedeutung von Banken verfasste.

Müller ist Autor eines zusammen mit einem Investmentbanker verfassten Buches über die Auswirkungen digitaler Technologien auf das Finanzsystem. "The End of Banking: Money, Credit, and the Digital Revolution" wurde unter dem Pseudonym Jonathan McMillan veröffentlicht.

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