Die Massengräber der Jesiden

Haqi Ido mit dem Kleidungsstück eines Opfers aus dem Massengrab bei Herdan.
Haqi Ido mit dem Kleidungsstück eines Opfers aus dem Massengrab bei Herdan.(c) Wieland Schneider
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Seit Monaten verteidigen sich jesidische Kämpfer in den Sinjar-Bergen Nordiraks verbissen gegen die IS-Extremisten. Sie stoßen auf Massengräber, in denen der IS seine Opfer verscharrt hat.

Mit seinen bloßen Händen gräbt Haqi Ido in der hellbraunen Erde. Nach wenigen Sekunden zieht er eine Gebetskette hervor, ein zerschlissenes Hemd, einen menschlichen Knochen. Dann legt der alte Jeside alles wieder fein säuberlich hin, schultert sein M-16-Sturmgewehr und stapft einige Dutzend Meter weiter durch das zerfurchte Gelände. Dort liegt eine ausgebeulte Jacke auf der Erde, gleich neben einem ausgebleichten Stofffetzen, der einmal ein hübsches Kopftuch gewesen sein dürfte. Es ist das, was geblieben ist von den Menschen, die hier ermordet und verscharrt worden sind.

Mit Plastikbändern sind die drei Stellen abgesperrt, an denen die Leichenteile entdeckt worden sind, die Kleidungsstücke und die persönlichen Gegenstände, die die Opfer bei sich getragen haben. Eigentlich sollte an den Fundorten nichts verändert werden. Doch immer wieder suchen Menschen auf eigene Faust nach Spuren ihrer vermissten Angehörigen.

Verschanzt hinter Sandsäcken

Experten konnten das Massengrab bisher noch nicht öffnen. Es liegt unmittelbar neben dem vordersten Außenposten der jesidischen Kämpfer, die sich hier hinter Sandsackbarrikaden und einem Erdwall verschanzt haben. Nur etwa 500 Meter weiter beginnt bereits das Territorium der Extremisten des sogenannten Islamischen Staates (IS).

Durch die kurdische Gegenoffensive im Dezember wurde der IS vorerst zurückgedrängt. Das Massengrab nahe des Ortes Herdan ist eine der schaurigen Hinterlassenschaften der Terrormiliz. Anfang August rückten die Extremisten in das Gebiet am Fuße der Sinjar-Berge ein. Die Region, von den Kurden Shingal genannt, ist die Heimat der Jesiden. Für die religiöse Minderheit, die einem alten monotheistischen Glauben angehört, ist in der IS-Ideologie kein Platz. Die Jihadisten wollen das Jesidentum auslöschen: durch Zwangskonvertierung zu dem, was sie unter Islam verstehen – und durch Massenmord.

„Sie haben Anfang August die Menschen aus den Dörfern zusammengetrieben. Viele Frauen und Kinder wurden in Geländewagen weggebracht. Die Männer haben sie vor die Gruben gestellt und erschossen“, erzählt einer der jesidischen Kämpfer. Er bezieht sich auf die Angaben eines Augenzeugen. „Ein Mann namens Haled Hassan Gurmez hat alles durch ein Fernglas beobachtet.“


Als dann im Dezember der IS vertrieben wurde, führte der Zeuge die kurdischen Kämpfer an den Ort des Verbrechens. Dort wurden rasch erste Überreste der Getöteten entdeckt.Von 574 Personen aus der unmittelbaren Gegend fehlt jede Spur. Die meisten von ihnen dürften in dem Massengrab bei Herdan liegen, fürchtet der jesidische Kämpfer. „Hier hat ein Völkermord stattgefunden.“ Er erzählt auch von den unzähligen Frauen in der Gewalt der Jihadisten. „Wo sind die internationalen Bemühungen, um unsere Frauen zu retten, die von den IS-Terroristen als Sklaven gehalten werden?“, fragt er empört.

Die jesidischen Peshmerga-Einheiten in der Region werden von Qasim Shesho kommandiert. Er ist Chef der „Heza Parastina Shingal“ (HPS), der „Verteidigungseinheit von Shingal“. Anfangs nur mit einer Hand voll Männern leistete er den anstürmenden IS-Truppen Widerstand. Mittlerweile hat er mehr als 2000 Jesiden unter Waffen.

Es ist nicht einfach, ins Gebiet der Jesiden zu gelangen. Es bedurfte langer Diskussionen mit den kurdischen Stellen in der Stadt Dohuk – mit Verwaltung, Innerer Sicherheit und Militär – , um schließlich am letzten offiziellen Kontrollposten der Region Kurdistan in Richtung Sinjar durchgelassen zu werden. Die Fahrt führt vorbei an der Stadt Rabiaa, die die Kurden nach heftigen Gefechten dem IS entreißen konnten, und dann weiter entlang der irakisch-syrischen Grenze. Verwüstete Dörfer säumen den Weg. Am Straßenrand stehen ausgebrannte Geländefahrzeuge des IS – Spuren der US-Luftangriffe auf die Jihadisten. Schließlich taucht im Dunst der Sinjar-Höhenzug auf.

"Help us"

In der Pilgerstätte Sherfedin, am Fuße der Sinjar-Berge, hat Qasim Shesho sein Hauptquartier aufgeschlagen. Dort befindet sich das zweitwichtigste Heiligtum der Jesiden. „Der IS hat uns hier 16 Mal angegriffen,aber wir haben die Stellung gehalten“, erzählt Qasim Shesho, ein älterer Herr mit Brille und schwarzem Schnurrbart. „Hätten die Terroristen Sherfedin eingenommen, wäre für sie der Weg frei gewesen zu den Jesiden in den Bergen. Und das hätte zu einem gewaltigen Massaker geführt.“Zehntausende Zivilisten waren im Sommer vor dem IS ins Gebirge geflohen – in glühender Hitze, ohne ausreichend Wasser und Nahrung. „Help us“ lautet ein riesiger Schriftzug, der mit Steinen in den Hang oberhalb der Pilgerstätte gelegt wurde – ein Hilferuf an die Welt, der aus der Luft gesehen werden sollte.

Auch das jesidische Heiligtum mit den spitzen Türmen und den Pfauenstatuen blieb unversehrt. Wären die IS-Extremisten bis hierher vorgedrungen, hätten sie es als „unislamisch“ zerstört. Am 11. Dezember kam ein IS-Selbstmordattentäter der Pilgerstätte gefährlich nahe. Die jesidischen Kämpfer schossen sein Auto voller Sprengstoff aber im letzten Moment ab.

Mangel an Medikamenten

Qasim Sheshos Männer sind stolz darauf, all die Monate den Ort verteidigt zu haben. Sie haben durchgehalten, gerade im Sommer, als sie kaum Waffen hatten und umzingelt waren. Mittlerweile ist der Weg in Nordiraks Kurdenregion freigekämpft, und ihr Präsident Masud Barzani schickt Ausrüstung an Sheshos Kämpfer. Auf dem Platz vor Sheshos Hauptquartier stehen ein Humvee und ein Toyota mit aufgepflanzten Maschinengewehren. Die Kämpfer lagern in einer großen Halle. Es gibt nur wenige Stunden Strom pro Tag. In der Halle ist es während der Nacht bitterkalt. Viele der jesidischen Kämpfer sind erkältet.

„Wir brauchen dringend Medikamente, nicht nur für die Truppe“, sagt einer der Kämpfer. In den Dörfern rund um das Heiligtum leben 2000 jesidische Zivilisten in teilweise zerstörten Häusern, erzählt er. Und in den Bergen harrten nach wie vor 10.000 Menschen aus. Die Wasserversorgung ist zusammengebrochen. „Noch sind keine internationalen Hilfsorganisationen zu uns vorgedrungen. Die Welt beachtet uns weiterhin nicht.“

Von der Pilgerstätte Sherfedin führt die Straße an den Bergen entlang, weiter Richtung Westen, bis in die Stadt Khana Sor. An den Checkpoints vor der Stadt wehen Flaggen der YPG-Volksverteidigungseinheiten und ihres jesidischen Ablegers YBS. Die Volksverteidigungseinheiten der syrischen Kurden sind Verbündete der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die jahrzehntelang einen Untergrundkrieg gegen den türkischen Staat geführt hat. Sie waren die ersten, die den Jesiden zu Hilfe geeilt waren. Barzanis Peshmerga aus der Kurdenregion rückten erst im Dezember an. Mittlerweile kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen Barzanis Peshmerga und Qasim Sheshos Truppe auf der einen und YPG und YBS auf der anderen Seite.

27 exhumierte Leichen

Doch noch kämpfen alle gegen den gemeinsamen Feind IS. Und dieser Feind hat auch in Khana Sor die Spuren seiner Grausamkeit hinterlassen. Naif deutet auf den gewaltigen Graben: „Vor ein paar Tagen haben Forensiker hier ein Massengrab geöffnet“, erzählt der Jeside, der für die Sicherheitskräfte der Kurdenpartei PUK arbeitet. „Sie haben 27 Leichen exhumiert, darunter die von zwei Frauen und drei Kindern.“ Die Toten waren Jesiden, die vor einem halben Jahr vom IS umgebracht worden sind. Und in der Gegend werden weitere verscharrte Mordopfer vermutet.

„Bis jetzt wurden an der Nordseite des Sinjar-Gebirges zwölf Massengräber entdeckt“, berichtet Mirza Dinnayi. Der Jesiden-Aktivist hatte im Sommer die Hubschrauberhilfsflüge für die eingeschlossenen Flüchtlinge in den Bergen mitorganisiert. In der Region südlich des Gebirges, die noch vom IS kontrolliert wird, dürften sich etwa 15 weitere Massengräber befinden, sagt Dinnayi. Es wird noch lange dauern, bis alle Opfer gefunden worden sind.

Der alte Jeside Haqi Ido blickt entsetzt über das Massengrab bei Herdan, das noch nicht geöffnet werden konnte und seufzt: „Nur Gott weiß, wie viele Menschen hier begraben liegen.“

FAKTEN

Das Jesidentum ist eine uralte monotheistische Religion, die vor allem im Irak, in Syrien und der Türkei verbreitet ist. Zum Jesidentum kann man nicht konvertieren. Jeside ist man nur, wenn beide Eltern Jesiden sind. Im Vergleich zu anderen Religionen gibt es keinen Teufel, weil Gott der absolute Schöpfer ist. Eine wichtige Rolle spielt der Engel Tausî Melek, der als Pfau symbolisiert wird.

Etwa eine Million Jesiden gibt es weltweit. Sie waren immer schwerer Verfolgung ausgesetzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2015)

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