Die Zahl der antisemitischen Vorfälle hat sich in Frankreich, Großbritannien und auch in Österreich im Vorjahr verdoppelt. Politiker-Appelle verhallen, es sind heuer bereits fünf Todesopfer zu beklagen.
Wien. Dan Uzan, ein Zweimeter-Hüne und Hobby-Basketballer, hat mit seinem Leben dafür bezahlt, dass er ein Massaker zu verhindern trachtete. Als jüdischer Wachmann hatte der 37-Jährige die Gemeinde, die in der Synagoge im Kopenhagener Lokalviertel am Abend des Valentinstags die Bat-Mitzwa eines zwölfjährigen Mädchens feierte, vor einem Blutbad gewarnt. Er ist das jüngste Opfer einer antisemitischen Welle in Europa, die seit dem vorjährigen Gaza-Krieg grassiert und die in den letzten Wochen in Paris und Kopenhagen in Terrorakten mündete.
Vier französische Juden hatten im Jänner mit ihrem Leben dafür gebüßt, dass sie sich am Vorabend des Sabbats im Pariser Vorort Vincennes mit Lebensmitteln im koscheren Supermarkt „Hyper Cacher“ eindecken wollten. Dabei ist es erst drei Wochen her, dass Staats- und Regierungschefs wie ein Mantra Alarm schlugen vor einem anschwellenden Antisemitismus in Europa. Zum 70. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz fielen Angela Merkel, François Hollande und Wladimir Putin in seltener Einmütigkeit in den Chor jener ein, die wie Hollywood-Regisseur Steven Spielberg den „Dämon der Intoleranz“ an die Wand malten.
„Holocaust begann nicht mit Auschwitz“
Ob durch Hasspropaganda im Internet oder mittels physischer Gewalt: Juden würden in Europa wieder am Pranger stehen, so Spielberg in Krakau. In den Politiker-Appellen war viel die Rede von „Schande“, „Nie wieder“ und „immerwährender Verantwortung“.
„Der Holocaust hat nicht mit Auschwitz begonnen, sondern mit Angriffen auf Rabbis und Hakenkreuz-Schmierereien“, rief Yuli-Yoel Edelstein, Israels Parlamentspräsident, in Erinnerung. Premier Benjamin Netanjahu fordert Europas Juden darum zur Emigration nach Israel auf, sehr zum Ärger vieler europäischer Spitzenpolitiker.
Österreich, Frankreich und Großbritannien registrierten für das Jahr 2014 eine Verdoppelung der antisemitischen Vorfälle, in Österreich stieg die Zahl auf 255. Bis zum Attentat in Paris markierte ein Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel mit vier Toten im Mai den schwersten Zwischenfall. Das Beispiel sollte Nachahmungstäter animieren. Es ist das deklarierte Ziel der IS-Jihadisten, Europa mittels Syrien- und Irak-Heimkehrern mit Terror zu überziehen – und dabei rücken insbesondere jüdische Institutionen wie Schulen und Synagogen ins Visier.
Schändung jüdischer Gräber in Frankreich
Im Sommer gaben antisemitische Ausschreitungen im Zuge der Proteste gegen den Gaza-Krieg, unter anderem bei einem Match von Maccabi Haifa in Bischofshofen, einen Vorgeschmack. Antisemitische Parolen und Pöbeleien gehörten bei Demonstrationen in Westeuropa zum schlechten Ton. Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sprach von einer „schauderhaften Welle des Judenhasses“. Und so ist es wohl auch kein Zufall, dass es im Osten Frankreichs zu einer Schändung hunderter Gräber auf einem jüdischen Friedhof kam, wie just am Sonntagabend bekannt wurde.
„Gerade in Europa nimmt der Hass gegen Juden zu“, konstatierte selbst der so diplomatische UN-Generalsekretär Ban Ki-moon. Bernard-Henri Lévy, französischer Starphilosoph, blieb es vorbehalten, eine Wurzel des Übels zu benennen: Oft sei das „Gift des radikalen Islam“ die Quelle von Hass. Genährt wird der Antisemitismus nicht zuletzt von politischer Polemik. Türkische Politiker von Präsident Recep Tayyip Erdoğan abwärts nennen Israels Premier Netanjahu gerne im selben Atemzug wie Adolf Hitler.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2015)