Verfahrensdauer allein bestimmt nicht Qualität

(c) Clemens Fabry
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Justizinterne Statistiken über die Länge von Verfahren haben ein Problem: Wer seinen Arbeitsaufwand unangemessen gering hält, schneidet am besten ab. Auch der Rechnungshof schaut nur auf die Verfahrensdauer.

Die Unabhängigkeit der Gerichte ist ein wesentlicher Grundsatz der Verfassung – unbestritten und bewährt. Sie bedeutet nicht das Fehlen von Kontrolle. Inhaltlich wird die Arbeit der Richter durch die Berufungsgerichte überprüft. Daneben gibt es das richterliche Disziplinarrecht und ein recht ausgefeiltes elektronisches Überwachungssystem – auf Knopfdruck kann man an jedem Justizarbeitsplatz abrufen, wie lange ein Verfahren bei einem bestimmten Richter oder Gericht im Schnitt dauert, wie viele Verhandlungen ein bestimmter Richter pro Woche durchführt, wie lange er für die schriftliche Urteilsausfertigung benötigt usw.

Empfehlungen als wertvolle Hinweise

Einer Überprüfung durch Volksanwaltschaft und Rechnungshof stand die Richterschaft lange Zeit skeptisch gegenüber – eben im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Rechtsprechung. Mittlerweile hat sich das Verhältnis der Justiz zu Volksanwaltschaft und Rechnungshof entkrampft. Es hat sich gezeigt, dass deren Empfehlungen der Justiz wertvolle Hinweise zur Qualitätssicherung liefern.

Der kürzlich vorgestellte Bericht des Rechnungshofs zur Strafjustiz gibt nun aber den Kritikern solcher Prüfungen recht und bringt für alle, die wie der Autor die Rechnungshofprüfung immer befürwortet haben, eine Ernüchterung. Der Bericht enthält dort, wo sich der Rechnungshof in seiner Kernkompetenz bewegt, durchaus hilfreiche und diskussionswürdige Anmerkungen: in den Bereichen Personaleinsatz, Fortbildung, Verwaltungsmanagement usw. Tatsächlich führen Richterwechsel oder der Mangel an Sachverständigen immer wieder zu Verzögerungen, für die bisher keine adäquate Lösung gefunden wurde. Der Bericht verweilt aber nicht dort, sondern steigt in die Prüfung der inhaltlichen Tätigkeit der Strafjustiz ein, ohne sich näher mit den gesetzlichen Vorschriften zu beschäftigen.
Der Rechnungshof prüft nämlich die Qualität der Strafverfahren an einem einzigen Parameter: der Verfahrensdauer. Er legt damit einen Maßstab an, der bis in die 1990er-Jahre gültig war. Seither hat sich das Strafverfahren jedoch massiv verändert. Viele neue Regelungen sind Ergebnis der Fachdiskussion auf europäischer Ebene, die zu einem Modernisierungs- und Qualitätsschub geführt haben. Vor 20 Jahren gab es nach der Anklage durch die Staatsanwaltschaft ein recht klares Szenario: eine Hauptverhandlung, die mit einem Freispruch oder Schuldspruch endet. Und auch beim Schuldspruch gab es nur zwei Varianten: die Geld- oder Freiheitsstrafe.

Diversion eröffnet viele Wege

Heute ist der gesetzliche Rahmen ein völlig anderer: Die sogenannte Diversion eröffnet viele Wege. An die Stelle des Urteils kann ein Tatausgleich treten, Richter können mit gemeinnützigen Arbeiten oder diversen Auflagen vorgehen. Ein Hauptziel des Strafverfahrens ist es nun, die Opfer angemessen einzubeziehen, auf die Schadensgutmachung hinzuwirken und die gerichtlichen Maßnahmen auf den konkreten Täter so maßzuschneidern, dass die Gesellschaft bestmöglich vor einer neuen Tat desselben Täters geschützt ist, sei es durch eine Therapie oder eine Strafe. Gerade im unteren Kriminalitätsbereich, also im bezirksgerichtlichen Verfahren, ist ein Vorgehen mit Diversion der Regelfall.

Schnelle Erledigung bringt nicht viel

Wenn ein Richter nun versucht, den einem Strafverfahren zu Grunde liegenden Konflikt zu bereinigen, einen Ausgleich zwischen Täter und Opfer zu finden, dann benötigt das oft mehrere Gespräche und eine Vertagung der Verhandlung. Oft brauchen Täter oder Opfer eine Nachdenkphase, oft verzögert sich die Schadensgutmachung. Eine Hauptverhandlung, in der nach zehn Minuten eine Geld- oder Freiheitsstrafe verhängt wird, bietet eine schnelle Erledigung: Sie bringt weder Täter noch Opfer viel weiter.

Ähnliches gilt für die von den Bezirksgerichten verhandelten Drogendelikte, vor allem Eigenkonsum. Das Gesetz folgt hier dem Prinzip Therapie statt Strafe und enthält eine spezielle Diversionsbestimmung. Vorgesehen sind Stellungnahmen der Gesundheitsämter – darauf warten Strafrichter in Wien in der Regel sechs bis neun Monate. Ein Richter, der in solchen Fällen sofort verhandelt (und z. B. zu einer Geldstrafe verurteilt), spart sich einige Arbeitsstunden und verkürzt sein Verfahren um Monate – er verfehlt aber die Intention des Gesetzgebers.
Das Vorgehen mit Diversion bringt viel Qualität, erfordert naturgemäß aber mehr Zeit. Misst man nun die Arbeitsleistung der Richter und Gerichte nur an der Verfahrensdauer, fördert man schnelle Entscheidungen durch Urteile, die eine nähere Beschäftigung mit den gesetzlichen Täter- und Opferrechten und Therapiekonzepte außer Acht lassen. Genau das war seit jeher ein Problem auch der justizinternen Verfahrensdauerstatistiken: Wer seinen Arbeitsaufwand unangemessen gering hält, schneidet in dieser Statistik am besten ab. Vernünftigerweise wird man also immer andere Parameter mitvergleichen. Auch bei der Evaluierung eines Krankenhauses wird man die Qualität nicht an der Kürze der Arztgespräche in der Ambulanz messen. Eine Qualitätsprüfung im Strafverfahren muss immer auch die Anzahl der durchgeführten Tatausgleiche, der erledigten Opferansprüche, der erteilten Therapieweisungen an Täter etc. beinhalten.

Ladungen werden ignoriert

Und man muss mitbedenken, dass im städtischen Bereich etwa ein Drittel der zu einem Strafverfahren geladenen Personen nicht erscheint. Das betrifft Angeklagte und Zeugen gleichermaßen. Auch hier ist nach dem Gesetz oft eine rasche Urteilsfällung möglich – dennoch schafft eine Vertagung und neuerliche Ladung der nicht erschienen Personen in der Regel eine bessere

Entscheidungsgrundlage und mehr Verfahrensqualität.
Um all das kümmert sich der Rechnungshofbericht mit keinem Wort. Er vernachlässigt auch die Tatsache, dass etwa ein Drittel bis die Hälfte der Arbeitszeit eines Richters am Bezirksgericht auf die Abwicklung von Diversionsverfahren entfällt – so der Richter den gesetzlichen Auftrag ernst nimmt. Der Rechnungshof prüft die Bezirksgerichte, ohne auf das zentrale Feld der Diversion einzugehen.

Der Autor

Dr. Oliver Scheiber ist Richter in Wien; er gibt hier seine persönliche Ansicht wieder.

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