Der Fall Rocco

„Brüssel zartherb“: wie ein Philosophieprofessor doch nicht EU-Kommissar wurde – eine Nachforschung.

Ich wollte einen Schlüsselmoment in der Geschichte der Europäischen Union rekonstruieren. Ich forschte lange, noch länger grübelte ich, wie ich die Ergebnisse meiner Forschung präsentieren soll. Mir dräute, ich würde eine Liste verquälter Beteuerungen voranstellen müssen. Beteuerungen wie: Nein, ich habe nichts gegen Schwule. Ja, ich war auch schon mit Schwulen befreundet! Aber ja, ich bin gegen jede Art von Diskriminierung. Einer, der so zu erzählen anfängt, macht sich schon verdächtig. Damit muss ich leben. Ich will mich bemühen, auch meine Vorurteile anzuführen. Sie haben sich im Lauf meiner Nachforschung mehrmals gewandelt.

Der Fall Rocco Buttiglione hatte mich lang schon neugierig gemacht. Nie zuvor war es vorgekommen, dass ein designierter Kommissar gestürzt wurde. Nach ei- nem Hearing im „Ausschuss für bürgerliche Freiheiten“ des Europäischen Parlaments stimmten 27 Mitglieder gegen Buttiglione, 26 für ihn. Das wurde als Triumph der Schwulenbewegung gefeiert. Am Beginn meiner Rekonstruktion hatte ich folgende Meinung: Ein Katholik durfte nicht Kommissar der EU werden, weil er die Position der Bibel und der Kirche zur Homosexualität vertrat. Das fand ich insofern unsympathisch, als Buttiglione von allen Kandidaten am qualifiziertesten erschien. Er beherrschte die sechs meistgesprochenen Sprachen der EU plus Portugiesisch, er hätte mit drei Vierteln der Unionsbürger in ihren Muttersprachen kommunizieren können. Dass der Philosophieprofessor in Berlusconis Kabinett den Europaminister machte, war vielleicht keine Empfehlung. Dass er ein Freund und Berater von Johannes Paul II. war, hielt ich jedoch für eine Referenz.

Späthippie-Stil, gezähmt

Ich kontaktierte ILGA-Europa, den europäischen Dachverband der Homosexuellen-Lobbys. Bald hatte ich einen Termin mit der Person, welche die Kampagne gegen Buttiglione in Brüssel koordiniert hatte. Sie war inzwischen zu Amnesty International gewechselt. Am Ende eines Werktags holte ich sie von ihrem neuen Arbeitsplatz ab. Amnesty war im Herzen des Europaviertels eingemietet, mit herrlicher Aussicht. Da habt ihr euch für meine Spendengelder etwas Hübsches gefunden, dachte ich bei mir.

Christine Loudes erwies sich als Französin, wohl um die 40, ihre Kleidung hätte ich als gezähmten Späthippie-Stil beschrieben, mit luftigen Stoffhosen. Sie hatte weiche Züge und einen weichen Gang und erinnerte mich an eine Frau, die ich beinahe einmal geheiratet hätte.

Wir gingen durch die Hölle des Berufsverkehrs zu einem nicht weiter auffälligen Café ihrer Wahl. Wir sprachen schon im Gehen über das Thema. Oje, dachte ich bei mir, Frau Loudes wird hinterher über meinen Text nicht glücklich sein. Plötzlich unterbrach sie das Gespräch und sprach einen Blinden an, der verloren an einem Zebrastreifen der Rasermagistrale rue Belliard stand. Sie wechselte ein paar Worte mit ihm und half ihm bei der Orientierung. Ich hatte den Blinden nicht bemerkt. Oje, dachte ich bei mir, ich habe es mit einem guten Menschen zu tun.

„Es war mein erstes Jahr in Brüssel“, erzählte sie im Café, „es war sehr aufregend.“ Vor mir rollte die Erzählung eines kleinen Mädchens ab, das vollkommen unverhofft einen finsteren Mächtigen stürzte. Es fiel mir schwer, ihrer Geschichte nicht irgendwo sympathisierend zu folgen. So sei die Kampagne gelaufen: ILGA-Europa habe von der italienischen „Arcigay“ eine Kollektion von Buttigliones homophoben Zitaten bekommen. Man habe schon früher die Gründung der „Intergroup“ für homosexuelle Belange befördert, und man habe „eine Liste von LGBT-friendly Ausschussmitgliedern“ gehabt. LGBT – das ist: „lesbian, gay, bisexual, transgender“.

Frau Loudes hatte sich selbst ins Hearing gesetzt. Buttiglione habe sich dort „ärgerlich“ benommen, sagte sie. Er habe im Hearing weitere „homophobe Bemerkungen“ gemacht. Erinnern konnte sie sich an keine dieser Bemerkungen.

Später im Gespräch gab es einen irritierenden Moment. Ich stellte eine unbedeutende Nebenfrage, nämlich ob die Lobbyisten der Homosexuellenlobby homosexuell seien. „Wir fragen nicht nach sexueller Orientierung“, antwortete Frau Loudes. Und fügte ganz allgemein hinzu: „Sie dürfen nicht fragen, Sie können geklagt werden.“ Nach dieser Unterweisung fragte ich Frau Loudes lieber nicht nach ihrer sexuellen Orientierung. Ich hätte wohl ohnehin nicht gefragt, und doch begann sich ein kleiner Schatten der Unfreiheit über unser Cafétischchen zu senken. Dabei hatte ich mich gerade noch gelehrig gezeigt. Wir sprachen, wie sich das gehört, von „LGBT people“ mit „LGBT rights“. 

Als Nächstes suchte ich eine der EU-Abgeordneten auf, die mit Buttigliones Zitaten versorgt worden waren, die holländische Grüne Kathalijne Buitenweg. Auch bei dieser LGBT-Engagierten hatte ich in Windeseile einen Termin. Die resche Enddreißigerin empfing mich in vitaminisierter Frische. Auch die Holländerin sagte, dass sie vom Erfolg der Kampagne überrascht gewesen sei. Sie habe maximal einen Tausch von Zuständigkeiten erwartet. Buttiglione war für „Justiz und Inneres“ nominiert, eine Behörde, die laut Frau Buitenweg „Antidiskriminierung vorantreiben“ muss. „Als Kommissar für Fischerei ist er okay für mich.“

Ach ja, die Sünde

Ich bat ILGA und „Arcigay“ um die Kollektion der Zitate, nach mehreren Anfragen bekam ich sie endlich. Beim Durchlesen der zwei Seiten verstand ich, warum man mich so lange warten ließ. Ich konnte nichts Beleidigendes entdecken. War ich zu verroht, war ich selbst homophob? Ich fragte bei der LGBT-Lobby nach, ob dieses Papier alles war. Sie sagten ja. Ich las das Papier wieder und wieder. Buttiglione hatte zwar Homosexualität als Sünde bezeichnet, diese moralische Bewertung aber politisch irrelevant genannt. Er nannte sich selbst einen Sünder und führte aus, dass Sünden „kein Fall für Gerichte sind. Wenn alle Sünder vom Staat bestraft werden sollten, säße die ganze Menschheit im Gefängnis.“ Das Papier enthielt den Vorschlag Buttigliones, Frauen finanziell zu unterstützen, um sie von einer Abtreibung abzuhalten. Ich zermarterte mir den Kopf. Ich kam einfach nicht drauf, wer mit dieser Aussage diskriminiert worden war.

Ich wollte die andere Seite hören. Im Hearing waren auch katholische Abgeordnete aus Polen vertreten. Ich schrieb die Aktiveren an, mehrmals, in mehreren Sprachen. Ich bot sogar an, nach Polen zu kommen. Ich bekam nicht einmal eine Antwort. Am Ende sah ich mir die Aufzeichnung des viel besprochenen Hearings an. Das Tribunal ging über drei Stunden, am Ende waren die Dolmetscher weg. Themen gab es viele, doch meldeten sich in gut akkordierten Abständen Abgeordnete der „Intergroup“ zu Wort. Sie feuerten Fragen auf Buttiglione, jedes Mal lag der Anspruch höher. Die Holländerin Buitenweg fragte nach der Sünde. Der englische Schauspieler Cashman, berühmt für den ersten schwulen Kuss der Fernseh-Soap-Geschichte, schüttelte mit zornbebenden Lippen den Kopf. Die liberale Holländerin Inveld forderte „proaktiven“ Ausbau der LGBT-Rechte. 

Buttiglione antwortete ruhig und geistreich, zitierte Kant, Max Weber, Cicero, glänzte in fünf Sprachen, beteuerte seinen Willen zur Nichtdiskrimierung. Er sagte nach schärfster Prüfung nichts Homophobes. Ich will nicht sagen, dass mich die LGBT-Lobbyistin mit dem weichen Gang belog. Sie hat sich wohl selektiv erinnert. „Die Dinge haben sich seither sehr geändert“, resümierte Buitenweg die zu Ende gehende Periode des Europäischen Parlaments. Wie sieht wohl die nächste Kommission aus? Die Brüsseler LGBT-Lobby hat sich jedenfalls fit gemacht. Sie hat ihren Personalstand seit 2004 verdoppelt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2009)

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