Besatzungszeit 1945–1955: Schokolade, Zigaretten und Nylons

(c) Archiv des Ludwig-Boltzmann-Instituts, Graz, Aufnahme: Grünanger.
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Überlebens-Prostitution und Spitzeldienste. Verhältnisse mit Rotarmisten konnten mit 25 Jahren Haft in Sibirien enden.

Das Leben der Wiener Volksschullehrerin Anna Eder war kurz. Die Eltern der 1913 Geborenen brachten das Geld für ihre Ausbildung nur mit Mühe auf, und dann fand sie keine Anstellung. So trat sie 1938 gleich nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland der NSDAP bei und konnte so bis 1945 als Lehrerin arbeiten. Dann, nach Kriegsende, befand sie sich neuerlich in einer Zwangslage.

Anna Eder ließ sich vom französischen Geheimdienst anwerben, der in der Wiener Besatzungszone ebenso aktiv war wie sowjetische und US-Agenten. Was sie konkret verraten hat, wissen wir nicht. Sie wurde von der russischen Besatzungsmacht festgenommen und am 13. Juni 1950 vom sowjetischen Militärtribunal in Baden bei Wien wegen Spionage zur „Höchststrafe“ verurteilt: Tod durch Erschießen.

Fast alle posthum rehabilitiert

Das Schicksal der kleinen Agentin Anna Eder ist nur eines von 104 Menschen, die zwischen 1950 und 1953 von den Sowjets auf österreichischem Staatsgebiet zum Tod verurteilt und in Moskau erschossen wurden. Das Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung (Stefan Karner, Barbara Stelzl-Marx) hat aus den Moskauer Archiven die Biografien dieser Personen nachgezeichnet. Ein großer Teil wurde in den Neunzigerjahren von den Russen posthum rehabilitiert („Die Welt bis gestern“ berichtete am 28. 2. 2009).

Wir erleben die Todesangst, die Anna Eder nach dem Urteil erfasst hat. Jedem Verurteilten stand es frei, ein Gnadengesuch an das Oberste Gericht der UdSSR zu richten – ganz wenige fanden Gehör. Anna Eder: „Ich bereue es aus ganzem Herzen, dass ich auf eine so schiefe Bahn geraten bin. Glauben Sie mir, dass ich dieses Verbrechen nicht aus Hass und auch nicht aus dem Wunsch heraus, Ihnen Schaden zufügen zu wollen, begangen habe, sondern dass mich meine Notlage dazu gezwungen hat.“ Zuerst habe sie nach 1945 alle Einrichtungsgegenstände verkauft und erst dann das Angebot des französischen Geheimdienstes angenommen. „Meine Tätigkeit bewegte sich immer im legalen Rahmen und war ungefährlich.
[. . .] Bei der Anwerbung hat man mir versprochen, mir dabei behilflich zu sein, wieder Arbeit in meinem Beruf zu finden. Die Tragweite meiner Tätigkeit war mir nicht im Geringsten bewusst . . .“

Massengrab in Donskoe

Am 8. Juli beschied man ihr Ansuchen abschlägig. Anna Eder wurde von Baden nach Moskau transportiert und dort am 6. Oktober 1950 erschossen. Das übliche Prozedere: Ihre Leiche wurde verbrannt, die Asche im Massengrab auf dem Friedhof von Donskoe beigesetzt. Am 13. September 2001 erfolgte die Rehabilitierung Anna Eders durch die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation.

Auch die 42-jährige Hausfrau und Kriegerwitwe Isabella Lederer traf die Höchststrafe. Sie hatte antisowjetische Flugblätter gestreut, ihr 17-jähriger Sohn Horst hatte ihr dabei geholfen. Der junge Mann wurde zu 25 Jahren „Arbeitsbesserungslager“ verurteilt, die Mutter sogar wegen „bewaffneten Aufstandes“, wegen „Spionage“, „Terror“, „antisowjetischer Propaganda“ und „Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation“ am 9. Oktober 1952 durch Genickschuss hingerichtet. Ihre Rehabilitierung: 1998.

Ohne Erbarmen gingen sowjetische Kommandeure aber auch bei Verbrechen der eigenen Soldaten vor. Nach den Exzessen durch marodierende Rotarmisten bei der Eroberung Österreichs, nach den Massenvergewaltigungen und Plünderungen, kam ein scharfer „Ukaz“ aus dem Kreml. So wurde 1946 gerügt, dass „von den fünf verurteilten Soldaten, die eine aufsehenerregende Vergewaltigung mit Mord im Prater verübt hatten, erst einer erschossen wurde.“ Das sei dem Ansehen der Roten Armee abträglich.

„Allzu entgegenkommend“

Auch die „Fraternisierung“ mit den Österreichern war untersagt. Offenbar aber mit geringem Erfolg: „Nach wie vor wird die Einstellung der weiblichen Jugend aufs Schärfste kritisiert und bedauert, die um kleiner Geschenke willen den Angehörigen der Besatzungsmächte gegenüber eine allzu entgegenkommende Haltung einnimmt.“ So rügt die Bundespolizeidirektion Wien die Landsleute.

Freilich konnten dabei die sowjetischen Soldaten nicht mit den Verlockungen mithalten, die britische, französische und amerikanische Besatzer zur Verfügung hatten. Schokolade, Zigaretten und Nylonstrümpfe waren die gültige Währung und die Überlebensprostitution war Realität. Die sowjetischen Offiziere hatten dagegen anderes anzubieten: Papiere, Passierscheine, Reisebewilligungen, auch Schnaps und Tabak.

„Frauenhungriges Männerpotenzial“

Rund 40.000 sowjetische Soldaten waren bis 1955 in Österreich stationiert, hat Barbara Stelzl-Marx recherchiert. „Das war ein frauenhungriges Männerpotenzial im besten Alter.“ Und dazu kam, dass 380.000 österreichische Männer von den europäischen Schlachtfeldern noch nicht heimgekehrt waren. Die „Wochenpost“ schätzte, dass auf hundert Frauen nur 70 Männer kamen.

Die „große Liebe“ mag wohl manchmal entstanden sein. Aber es war eine gefährliche Sache. Wurde ein Sowjetsoldat mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt, so konnte das 25 Jahre Arbeitslager in Stalins Gulag bedeuten – für die Frau natürlich: Das war dann subversives Verhalten.

Die gestohlene Gans

Gewiss war den Rotarmisten bewusst, dass sich ihnen österreichische Mädchen nicht nur aus reiner Zuneigung und Sympathie näherten. Einer erinnert sich im Interview noch sehr genau an Silvester 1945/46 in Wien. Er hatte eine Gans „organisiert“ und ließ sie im Haus einer Wienerin zubereiten: „Ich bringe die Erdäpfel herein und sie – verdammt noch mal – haben die ganze, ganze Gans aufgegessen! Ja, diese Mädchen, und lachen noch dazu. Mir haben sie nur ein kleines Stück aufgehoben.“

Für viele andere zwischenmenschliche Kontakte endete der Flirt hingegen tödlich. Besonders Beziehungen zu Arbeitern der ostösterreichischen „USIA“-Betriebe, die sich in russischer Hand befanden, konnten leicht als „Spionage“ denunziert werden. Und, einmal verhaftet, schwand die Chance aufs Überleben sehr rasch. Die Verhafteten kamen in den meisten Fällen ins „Innere Gefängnis“ der sowjetischen Streitkräfte, das sich in Baden bei Wien befand: Ein beschlagnahmtes Wohnhaus in der Schimmergasse 17. Der gesamte Häuserblock war mit einem blickdichten Zaun umgeben, ein Wachturm signalisierte Bedrohliches. Ab Oktober 1955 mussten die blut- und uringetränkten Böden völlig erneuert werden.

Literatur:Karner/Stelzl-Marx (Hg.):
„Stalins letzte Opfer“
Oldenbourg-Verlag, März 2009

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2009)

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