Japan: Die Rückkehr nach Fukushima

Fukushima, vier Jahre danach.
Fukushima, vier Jahre danach.(c) EPA (Kimima Sa Mayama)
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Vier Jahre nach dem AKW-Störfall versuchen Wissenschaftler, wieder Leben in die Dörfer um Fukushima zu bringen. Doch wegen der Strahlung dürfen die Bewohner nur tagsüber bleiben.

Die beiden Männer sitzen auf blauen Klappsesseln und warten. Sie halten kleine Sonnenschirme über ihre Köpfe, tragen Helme und weiße Schutzmasken, die sie über Mund und Nase gezogen haben.

Plötzlich nähert sich ein Auto. Die beiden springen auf und kontrollieren die Papiere, die ihnen der Lenker des Fahrzeugs entgegenstreckt. Dann öffnen sie das grüne Gittertor, das die zweispurige Straße versperrt. Nur wer eine Genehmigung besitzt, darf hier durch. Denn die Straße führt direkt zum Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi. Nur etwa 35 Kilometer ist das AKW von hier entfernt. Hier, am Kontrollposten, beginnt die Sperrzone, die Japans Behörden um das havarierte Kraftwerk gelegt haben.

Es war vor vier Jahren, am 11.März 2011, als die Katastrophe über das AKW Fukushima-Daiichi hereinbrach. Um 14.46 Uhr Ortszeit bebte unter dem Meer vor Japans Ostküste der Boden. Das Beben löste einen Tsunami aus, der entlang eines hunderte Kilometer langen Küstenstreifen schwere Verwüstungen anrichtete und mindestens 18.500 Menschen tötete. Auch Teile des AKW Fukushima-Daiichi wurden überschwemmt. Damit begann eine Pannenserie, die schließlich in einem schweren Störfall endete.

„Zu lang sollte man sich hier nicht aufhalten. Deswegen werden die Wachleute am Kontrollposten sehr oft abgelöst“, sagt Yoichi Tao und zeigt auf seinen Geigerzähler. „Die Strahlenbelastung beträgt hier 18 Mikrosievert pro Stunde“, erklärt der japanische Nuklearexperte. Das ist achtmal höher als die maximal zulässige Strahlenbelastung für beruflich strahlenexponierte Personen in Österreich.

Menschenleere Straßen

Jedes Wochenende reist Yoichi Tao mit seinen Mitstreitern in das Gebiet um das Kraftwerk. Im Juni 2011, drei Monate nach der Katastrophe, hatte der 74-Jährige die gemeinnützige Organisation Resurrection of Fukushima (Wiederauferstehung Fukushimas) gegründet. Sie dokumentiert die Strahlenbelastung, führt Dekontaminierungsmaßnahmen durch, eruiert, wo und unter welchen Bedingungen eine Rückkehr der Bewohner möglich sein könnte.

Vom Kontrollposten führt eine kurvige Straße ins Dorf Iitate. Nach der Katastrophe evakuierten die Behörden den Ort. 6000 Bewohner kamen in temporäre Unterkünfte. Mittlerweile dürfen die Menschen zurück nach Iitate – doch nur während des Tages. Am Abend müssen sie das Dorf wieder verlassen, um sich nicht zu lang einer hohen Strahlenbelastung auszusetzen.

Die Straßen im Zentrum Iitates sind gähnend leer. Nur Yoichi Taos Auto bewegt sich langsam durch das Dorf – hält vor dem Altersheim, dem Rathaus, der Volksschule. „Alle öffentlichen Gebäude sind verlassen“, sagt der 74-jährige Wissenschaftler. Vor der Volksschule steht ein Holzhäuschen mit kleinen Tonfiguren. Yoichi Tao berührt dort einen Knopf und ein aufgezeichnetes Lied ertönt: Kinderstimmen preisen das wunderschöne Heimatdorf Iitate mit seinen Wäldern und grünen Wiesen.

Tatsächlich deutet auf den Feldern und sanften Hügeln rund um Iitate nichts darauf hin, dass hier Gefahr lauern könnte – würden nicht hunderte schwarze Kunststoffsäcke das Idyll stören. Wo einst Reis angebaut worden ist, türmen sich diese Säcke jetzt meterhoch. In ihnen lagert tonnenweise verseuchte Erde. Die Regierung ließ als Dekontaminierungsmaßnahme die obersten fünf Zentimeter Boden abtragen, da das radioaktive Cäsium 137 lang auf der Erdoberfläche bleibt. Was mit den Säcken geschehen soll, ist unklar.

Iitate lebte vor der Katastrophe von der Landwirtschaft. Und Yoichi Tao und seine Mitstreiter versuchen herauszufinden, ob hier wieder Reis oder Gemüse angebaut werden können. Zusammen mit Professoren des Instituts für Agrarwissenschaften in Tokio starteten sie ein Experiment, das vorübergehen wieder Leben in das ausgestorbenen Dorf einkehren lässt.

Zweimal pro Jahr pflanzen sie mit Iitates Bauern Reis an. Bis fast zu den Knien stehen die Wissenschaftler im Wasser und setzen die Reispflanzen. Das Feld wurde in drei Sektoren aufgeteilt. In jedem davon wird unter unterschiedlichen Konditionen angebaut. Und dann später, nach der Erntezeit, werden Ertrag und die Strahlenwerte des Reises gemessen.

Nachdem der letzte Setzling gepflanzt worden ist, picknicken die Wissenschaftler zusammen mit den Bauern. Es gibt marinierten Oktopus und Salat. Immer wieder halten sie mit lauten Kampai!-Rufen mit Sake gefüllte Plastikbecher in die Höhe. Eine ältere Bäuerin nippt an ihrem Becher. Ihren Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen. Denn sie hält sich nicht an die Vorgaben der Behörden. Die Frau müsste so wie alle anderen in der Nacht das Dorf verlassen, um nicht zu viel Strahlung abzubekommen. Aber das kümmert sie nicht. „Mein Mann ist schon vor einem Jahr verstorben. Und ich werde hier in Iitate bleiben.“

„Wie einmal röntgen“

Nach dem Picknick wirft Yoichi Tao einen Blick auf das Dosimeter, das jeder Besucher bei sich trägt. In sieben Stunden hat sich eine Strahlendosis von vier Microsievert angesammelt. „Das ist etwa einmal röntgen“, sagt er. Kommendes Wochenende wird er wieder hierherkommen, um an der Wiederauferstehung Fukushimas zu arbeiten. Hast er keine Angst vor Radioaktivität? Der 74-jährige Physiker lacht: „Als die USA 1945 die Atombombe auf Hiroshima warfen, war ich als kleiner Bub in der Stadt. Und ich habe überlebt.“

www.diepresse.com/reporterjapan

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2015)

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