Europa rüstet auf. Die Ukraine-Krise alarmiert nicht nur Russlands Nachbarn. Von Berlin bis Tallinn fahren EU-Staaten Wehretats hoch. Finnland klopft bei Nato an.
Wien. Übers Schwarze Meer weht der eisige Windstoß des Kalten Kriegs. Ein Jahr nach der Annexion der Halbinsel Krim, nach der Parade der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol zum Jahrestag des Sieges der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg im Mai und dem militärischen Muskelspiel der russischen Flotte auf der einen und den Nato-Schiffen auf der anderen Seite ist das Schwarze Meer dieser Tage neuerlich Schauplatz der psychologischen Kriegsführung zwischen der westlichen Verteidigungsallianz und Moskau. Unter der Führung der USA hält die Nato Seemanöver mit den Anrainerstaaten Bulgarien, Rumänien und der Türkei ab.
Damit noch nicht genug. Im Hafen der lettischen Hauptstadt Riga sind zur gleichen Zeit 750 Panzer, Kampffahrzeuge und Humvees für ein auf drei Monate angelegtes Nato-Manöver im Baltikum an Land gegangen, rund ein Siebentel davon als Geschenk Washingtons an die drei Baltenrepubliken – als Zeichen der Solidarität mit Estland, Lettland und Litauen und als Zeichen der Abschreckung gegenüber Russland und Wladimir Putins potenzielle Begehrlichkeiten in Bezug auf die drei ehemaligen Sowjetrepubliken mit einer mehr oder weniger starken russischer Minderheit. Sergej Lawrow, der gefinkelte russische Außenminister, warf dem Westen prompt Aufrüstung vor der Haustür Russlands vor.
Machtdemonstration im Baltikum
Nächste Woche werden überdies 3000 US-Soldaten im Baltikum eintreffen – eine Machtdemonstration angesichts der Vielzahl an Luftraumverletzungen durch die russische Luftwaffe über der Nord- und Ostsee, der Sichtung russischer Kriegsschiffe vor der Küste, der Suche nach einem mutmaßlichen russischen U-Boot im Schärengarten vor der schwedischen Hauptstadt Stockholm und dem Beinahe-Crash eines russischen Kampfjets mit einer schwedischen Passagiermaschine, die das European Leadership Network penibel aufgelistet hat. Die baltische Luftraumüberwachung hat allein im Dezember 30 russische Militärflugzeuge abgefangen, die ihren Transponder ausgeschaltet hatten.
Die Eskalation im Zuge der Ukraine-Krise hat die überwunden geglaubte West-Ost-Konfrontation des Kalten Kriegs angefacht – und in den ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion die Angst vor einer neuen Bedrohung durch Moskau geschürt. „Das ist nicht nur eine Schlechtwetterperiode, das ist ein Klimawandel“, konstatierte Taavi Roivas, Estlands Ministerpräsident. In Narwa, der nordestnischen Grenzstadt zu Russland, rollten just zum Nationalfeiertag vor zwei Wochen Panzer der Nato-Staaten USA, Niederlande und Spanien. Währenddessen sprangen über Pskow, nahe der südestnischen Grenze, 1500 russische Fallschirmjäger im Rahmen einer Militärübung ab.
Nicht allein im Baltikum gehen die Staaten daran, den Verteidigungsetat zu erhöhen, die Armee zu erweitern, Rüstungsdeals abzuschließen und die Schutzmacht Nato anzurufen. Selbst bündnisfreie Länder wie Schweden und Finnland denken inzwischen über einen möglichen Beitritt zum transatlantischen Verteidigungsbündnis nach, zumindest forcieren die Gründungsmitglieder der „Partnerschaft für den Frieden“ die Kooperation mit der Nato. Die Nachbarn am Bottnischen Meerbusen planen darüber hinaus eine gemeinsame Marineeinheit. Vor 20 Jahren wäre ein Nato-Beitritt einfacher gewesen, räsonierte Finnlands Präsident Sauli Niinistö, ein deklarierter Nato-Befürworter. Jetzt würde dies die Beziehungen zu Moskau verschlechtern. Finnland und die frühere Besatzungsmacht Russland teilen eine 1200 Kilometer lange Grenze.
Schock in ehemaligen Ostblockstaaten
Entlang des Eisernen Vorhangs sitzen den früheren Ostblock-Staaten die Erinnerung an die sowjetischen Besatzer und die Traumata der brutalen Niederschlagung von Volksaufständen noch stärker in den Knochen. „Wir dürfen die jetzigen Gefahren nicht unterschätzen, wir müssen vorbereitet sein“, erklärte Tschechiens Verteidigungsminister, Martin Stropnicky. Zehn Jahre nach der Abschaffung der Wehrpflicht erwägt Prag ihre Wiedereinführung. Ganz ähnlich lautet der Tenor des polnischen Außenministers Gregorz Schetyna: „Wir müssen uns auf den schlimmsten Fall vorbereiten.“
So laut wie nirgendwo anders schrillen angesichts der Ukraine-Krise die Alarmglocken in Warschau. Nicht nur stockt Polen – wie auch Lettland – sein Verteidigungsbudget auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf, die Zielmarke der Nato, die bis dato nur die USA und Estland erfüllen. Stets fordert Polen auch eine verstärkte Nato-Präsenz und eine Stationierung von Truppen, wie sie der Nato-Gipfel in Wales im Herbst mit der schnellen Eingreiftruppe und Stützpunkten in den neuen Nato-Ländern beschlossen hat. Seit Ausbruch der Ukraine-Krise hat die Nato ihre Übungen in den neuen Mitgliedstaaten schlagartig erhöht, insbesondere in Polen.
„Zum ersten Mal greift ein Staat zur Gewalt, um Grenzen neu zu bestimmen. All diese gravierenden Dinge passieren an unserer Grenze“, warnte Klaus Johannis, Rumäniens neuer Präsident. Sein Land sei nicht direkt bedroht, doch in einer „geografisch exponierten Position“. Ergo trat er für die Anhebung des Verteidigungsbudgets ein – wie im Übrigen auch Europas Sparmeister, Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble. Nur 1,3 Prozent des deutschen BIPs fließen in Verteidigungsausgaben, nun kommt Schäuble den Rufen nach einer Führungsrolle Berlins nach.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2015)