Vom Phallus zum „unzüchtigen Finger“

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johnny cash(C) Jim Marshall
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Darf ein Politiker den Mittelfinger recken? Ronald Reagan und Peer Steinbrück taten es – wie schon ein antiker Philosoph: Über eine der ältesten beleidigenden Gesten, und was sie mit englischen Vögeln zu tun hat.

Wenn der Grieche Yanis Varoufakis in einer Fernsehsendung den Stinkefinger zeigt, hat das mehr Tradition, als man im ersten Moment meinen würde – eine Tradition, die weit hinter die neuere Politik oder Popkultur zurückgeht. In gewisser Weise ist sie fast eine nationale griechische Angelegenheit.

Der gereckte Mittelfinger ist eigentlich uraltes griechisches Kulturgut, älter als die Akropolis in Athen. Als Symbol für das männliche Glied begegnet einem besagter Finger schon im fünften Jahrhundert vor Christus, in der Komödie „Die Wolken“ des an derben Späßen reichen Aristophanes. Mit eindeutig beleidigender Absicht vollzog die Geste ein Jahrhundert später der kynische Philosoph Diogenes von Sinope; er drückte damit seine Verachtung gegenüber dem berühmten Redner Demosthenes aus.

Uralte Abwehrgeste

Auch wenn der Stinkefinger erst bei den alten Griechen verschriftlicht wurde – Historikern zufolge ist er über 2500 Jahre alt und damit eine der ältesten beleidigenden Gesten überhaupt. Ursprünglich diente sie im weitesten Sinn der Abwehr, dem eigenen Schutz.

Der Mittelfinger ist neben dem Daumen der kräftigste menschliche Finger, wohl deswegen wurde gerade er bei Menschen zum Phallussymbol (die benachbarten Finger konnten dabei für die Hoden stehen) – und damit auch zu einem Symbol für sexuelle Unterwerfung und Demütigung des Gegners. Nicht zufällig spielt die griechische Bezeichnung für den gereckten Mittelfinger, „katapugon“ (von kata, „hinunter“, und „puge“, „Hinterteil“), auf Analverkehr an.

Aber die Verhöhnung des Gegners war offenbar ursprünglich nicht der einzige Sinn. Das zeigt sich auch daran, dass die Geste im alten Rom unter anderem zum Schutz gegen den bösen Blick eingesetzt wurde – wie der Phallus als Fruchtbarkeitssymbol überhaupt. Subversiv wurde sie aber sehr früh – spöttisch rät etwa der römische Dichter Catull in einem Gedicht den Dieben, dieses Symbol als Gegenzauber gegen Hermeskopfstatuen einzusetzen (die Statuen sollten die Häuser reicher Römer schützen). Der Dichter Martial wiederum empfiehlt, Beleidigungen nicht ruhig hinzunehmen, sondern eben mit dem „digitus impudicus“ zu erwidern – dem „unzüchtigen Finger“, wie er im Lateinischen genannt wurde.

Caligula ließ den Mittelfinger küssen

Der berüchtigte römische Kaiser Caligula demütigte seine Untertanen, indem er sie nicht seine ganze Hand, sondern seinen „digitus impudicus“ küssen ließ. Glaubt man dem römischen Geschichtsschreiber Tacitus, kannten aber auch die Germanen diese Geste im Umgang mit Feinden.

Heute kursiert sie fast überall auf der Welt, unter zahllosen Namen. In manchen Gegenden zum Beispiel ist die Geste nach Personen benannt, die mit ihr (negativ) Aufsehen erregt haben. „Trudeau salute“ nennt man sie in Kanada, nach dem Premier Pierre Trudeau, er zeigte damit Anfang der 1980er seine Verachtung gegenüber Oppositionellen. Das taten vor ihm auch schon andere renommierte Politiker wie etwa US-Präsident Ronald Reagan (gegenüber Oppositonellen).

Das Englische kennt noch mindestens ein halbes Dutzend weitere Namen für den Stinkefinger. Am wohl poetischsten klingt „to flip somebody the bird“, auch wenn die historische Praxis dahinter nicht wirklich poetisch war: Der Ausdruck kommt nämlich von der jahrhundertealten Gewohnheit, Spott und Missfallen durch Imitation von Vogellauten zu äußern; etwa indem man wie Eulen heulte oder wie Gänse schnatterte. „To give the big bird“, sagte man dazu im 19.Jahrhundert. In den 1960er-Jahren übertrug man diese Redewendung dann leicht verändert auf den gereckten Mittelfinger.

Im Unterschied zum englischen „Vogel“ hat das Victory-Zeichen offenbar wenig mit dieser Geste zu tun, außer in einer hartnäckigen Legende: Im Hundertjährigen Krieg hätten Franzosen gefangenen englischen Bogenschützen die Zeige- und Mittelfinger abgetrennt, damit sie ihre Bögen nicht mehr benutzen konnten. Die (nicht gefangenen) Engländer hätten sie daraufhin mit ihren ausgestreckten Zeige- und Mittelfingern verhöhnt und gezeigt, dass sie durchaus noch kämpfen könnten.

Der französische „bras d'honneur“

Die Franzosen haben durchaus eine Variante des Stinkefingers, nämlich den Stinkearm – der bei ihnen freilich viel feiner „bras d'honneur“ heißt. In Ländern wie Afghanistan oder dem Iran wiederum wirkt der gereckte Daumen mindestens so obszön und beleidigend wie bei uns der Mittelfinger.

Die sexuelle Bedeutung ist dabei freilich immer mehr in den Hintergrund gerückt. Als der deutsche Fußballspieler Stephan Effenberg 1994 nach einem verlorenen Spiel dem enttäuschten Publikum „den Finger“ zeigte, wurde er noch von den WM-Spielen suspendiert. Der deutsche SPD-Politiker Peer Steinbrück dagegen konnte vor zwei Jahren so auf der Titelseite des Magazins der „Süddeutschen Zeitung“ posieren, ohne dass dies seiner Karriere wirklich geschadet hätte. Abstoßend wirkt die Geste immer noch auf viele – aber nicht so sehr, weil sie unzüchtig und unerzogen, sondern vor allem weil sie höchst arrogant wirkt. Das kommt dann doch nicht so gut bei einem Politiker – schon gar nicht einem griechischen ...

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2015)

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