Gemeindebau, Wien 1010

Wiener Gemeindebau Metzleinstaler Hof
Wiener Gemeindebau Metzleinstaler HofDie Presse
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Auch mitten in der Wiener Innenstadt, zwischen Palais und Prachthäusern, gibt es Gemeindebauten. So leben ihre Bewohner. Ein Streifzug.

Anhand einer Wiener Adresse kann man nicht beurteilen, ob jemand vermögend ist oder nicht. Sogar in der Inneren Stadt, zwischen Penthäusern und Luxusimmobilien gibt es – wenn auch oft nicht gleich ersichtlich – den Gemeindebau. Insgesamt 219.938 Gemeindewohnungen wurden seit 1925 in allen Bezirken Wiens errichtet. Der letzte Bau wurde 2004 eröffnet, jetzt kündigte Bürgermeister Michael Häupl (SP) eine Neuauflage an. („Die Presse“ berichtete). Dass die SPÖ in den 50er-Jahren auch im ersten Bezirk fünf Bauten errichten ließ, ist kein Zufall: Sie waren Festung gegen das Bürgertum und die feindlichen politischen Kräfte.

Einer dieser Bauten versteckt sich hinter der historischen Fassade in der Judengasse 4. Hinter dem großen hölzernen Tor, über dem eine Statue der heiligen Barbara thront, steht ein klassischer sozialistischer Bau aus den 1950ern, in dem 22 Parteien leben.

Hier wohnt Friseurmeister Arthur Frank (63). Er lebt seit 23 Jahren im Haus, ist Mieterbeirat und kennt die Lebensgeschichte jedes Nachbarn. „Wir sind wie eine große Familie.“ Das habe auch damit zu tun, dass das Haus sehr klein ist und die Menschen normalerweise nicht mehr ausziehen, wenn sie erst eine Wohnung haben.

Diese enge Beziehung ist ein Nährboden für Klatsch und Tratsch. So dauert es nicht lange bis man aus kurzen Plaudereien mit Bewohnern auf der Stiege erfährt, dass es da also diese eine Nachbarin gibt, die sich in den Nachbarn einen Stock darunter verliebt hat, aber sich nicht traut, mit ihm zu flirten. Dass der Mieter obendrüber ein Musiklehrer ist, und dass das Gitarren-Geklimper seiner Schüler nicht immer ein Ohrenschmaus ist – aber im Vergleich zum Lärm, der aus der benachbarten Lokalmeile Bermudadreieck kommt, ein Segen. Oder dass der Taufpate des einen Mieters der sechsfache Mörder Udo Proksch war und der ihn regelmäßig im Gefängnis besucht hat. Sogar einen „Quasi-Promi“ gibt es. Im sechsten Stock wohnt Peter Misak (71), der Bruder von Helmut Misak, „dem ersten richtigen Fernsehkoch“. Misak ist Kellermeister im Restaurant Zum Schwarzen Kameel. Seit der ÖBB-Bedienstete vor 14 Jahren in Pension ging, arbeitet er hier. Er war einer der ersten Mieter im Irene-Harand-Hof, bewohnt hier eine knapp 90 Quadratmeter große Wohnung um 293 Euro pro Monat und weiß alles über die Geschichte des Baus.


Stolzer Gemeindebaubewohner. 1990 wurde das Haus Judengasse 4 in Irene Harand-Hof umbenannt. Harand war eine christlich-sozialen Politikerin und Journalistin. Sie war eine vehemente Kämpferin gegen die mächtiger werdende NSDAP in den 1930ern. Als Antwort auf Hitlers „Mein Kampf“ schrieb die Katholikin „Sein Kampf“ – daraufhin wurde 1938 ein Kopfgeld von 100.000 Reichsmark auf sie ausgesetzt. Sie starb 1975 in New York.

Dass sein Zuhause „nach einer so tollen Frau“ benannt ist, ist für Misak nur einer von vielen Gründen, warum er stolz darauf ist: „Erstens ist die Lage natürlich toll. Zweitens sind Gemeindebauten oft soziale Brennpunkte. Bei uns nicht. Zu uns sind jetzt zum Beispiel auch einige Migranten-Familien zugezogen, die sofort in die Gemeinde aufgenommen wurden.“

So harmonisch geht es in den zwei größten Gemeindebauten des Bezirks wenige Gassen weiter nicht zu. Mit jeweils 113 bzw. 63 Wohnungen stehen sich die Nachkriegsbauten der Fischerstiege gegenüber.

Manja Fuchs (48) lebt hier seit ihrer Kindheit – genauso wie ihre Mutter Dagmar Irlbek (67) und ihre Tochter Melanie. „Wir sind in den 50ern eingezogen, als der Bau eröffnet wurde. Kurz nach dem Krieg hat niemand etwas gehabt. Man hat sich geholfen, das ist nicht mehr so“, sagt Irlbek. „Mit den Reichen ist der Neid gekommen. Das hat viel kaputtgemacht.“ Menschen hätten begonnen, nur mehr auf sich zu schauen. Und wenn heute neue Mieter einziehen, interessieren die sich kaum für die Gemeinschaft.

Das Leben im Gemeindebau habe sich durch das Geld verändert, genauso wie der Bezirk, dessen Wandlung die Gemeindebau-Bewohner seit Jahrzehnten beobachten. „Als ich ein Kind war, hat das Leben pulsiert. Am Donaukanal gab es Fischhallen und ein Freibad beim Schottenring, Es gab viel Grün“, sagt Fuchs. Der Bezirk sei ein Stück weit zu einem Freilichtmuseum geworden, das vor allem für die Touristen sei.

Und so zieht man sich gerne in seine vier Wände zurück oder plaudert mit den Nachbarn, die einem geholfen haben die Kinder großzuziehen oder mit denen man – wie in Fuchs' Fall – erwachsen geworden ist. „Die Gemeindebauten im Ersten sind zusammen wie ein Dorf“, sagt Frank, „weil sich die Bewohner alle irgendwie kennen.“

Im 1. Bezirk

Fischerstiege 1–7
113 Wohnungen, 6 Stiegen

Fischerstiege 4–8
63 Wohnungen, 3 Stiegen

Johannesgasse 9–13
Ginzkeyhof, 54 Wohnungen

Judengasse 4
Irene-Harand-Hof, 22 Wohnungen

Rudolfsplatz 8
45 Wohnungen

Wollzeile 27
Windhag'sches Stiftungshaus, 19 Wohnungen

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2015)

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