Tunesien: "Unsere Touristen kehren in Särgen zurück"

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Nach dem islamistischen Blutbad im Nationalmuseum in Tunis sind die Tunesier verstört: Regierungsparteien sprechen von Antiterrorkampf, obwohl sie einander nicht trauen. Und die Polizei steht wegen Versagens in der Kritik.

Wenn sein achtjähriger Sohn Yussef in der Wohnung einen Stuhl rückt, zuckt Wassil Bouzid zusammen. 48 Stunden lang hat er kein Auge zugetan, vom Einkauf kehrte er mit leeren Händen zurück. Im Supermarkt geriet er in Panik und dachte, alle wollten ihn umlegen. „Bumm, bumm“, dröhnte es in seinem Kopf.

Am Abend verabredete er sich mit seinem besten Freund in einer Bar, um so den Horror zu vertreiben. Als über den Bildschirm wieder die Bilder von den panisch aus dem Bardo-Museum flüchtenden Touristen flimmerten, brach er in Tränen aus. „Ich habe geheult und geheult und bin nach Hause“, sagt er. Seitdem lässt ihn seine Frau Salma nicht aus den Augen, auch beim Gespräch in El Aouina im Norden von Tunis, wo er samt Familie wohnt.

Seit 24 Jahren ist der kräftige Mann Reiseführer. Auf dem Bardo-Parkplatz neben den Palmen hatte er sich nach der üblichen Einstundentour auf Spanisch für seine Kreuzfahrtgäste von der MSC Splendida gerade eine Zigarette angesteckt. Neun Leute seiner 40-köpfigen Gruppe waren bereits zu dem Fahrer in den Bus gestiegen, die übrigen waren noch im Shop oder auf der Toilette. Plötzlich bemerkte er einen glatt rasierten jungen Mann in Jeans und Jacke, der eine Kalaschnikow aus der Sporttasche zerrte und hektisch versuchte, das krumme Magazin in den Schacht zu klicken.

„Erst dachte ich, das ist ein Zivilpolizist, dann dachte ich, da hantiert einer mit einem Spielzeuggewehr herum.“ Als dann die ersten Salven krachten, habe er kapiert, was los war. Der 48-Jährige rettete sich in die Moschee auf dem Gelände und von dort durch eine Nebentür auf das benachbarte Areal des Parlaments, wo er seinen Busfahrer auf dem Handy erreichte. Der berichtete ihm, ein zweiter Attentäter sei in den Bus gesprungen. Drei ältere Leute konnten sich nicht schnell genug ducken, zwei wurden erschossen, einer verletzt. Der Fahrer und sechs Gäste überlebten unversehrt – insgesamt starben zwölf Passagiere der MSC Splendida, 13 liegen mit Schusswunden im Krankenhaus.

Auch Tunesien ist verletzt, das einzige nahöstliche Land, das nach einem dortigen Aufwallen des Arabischen Frühling bisher nicht in Bürgerkrieg oder Diktatur versunken ist. Am Freitag wollte das Land seinen 59. Unabhängigkeitstag feiern. Doch die Stimmung auf dem Boulevard Habib Bourguiba ist gedrückt. Wie ein einsamer Rufer trägt Mohammed Ali Dridi mit rotem Fez und türkiser Jibba sein selbst gemaltes Schild durch die Menge. „Wie schön ist unser geliebtes Tunesien“, steht darauf. Mal umringen ihn Leute dankbar für ein Handy-Selfie, mal steht er einsam und verloren herum.

Dritter Terrorist auf der Flucht

Ob die Politik diese Megakrise bewältigen kann, weiß heute niemand. In der Zentrale von Nidaa Tounes versucht man gar nicht erst, die Lage zu beschönigen. „Wir erleben eine totale Katastrophe. Menschen, die in Tunesien Urlaub machen wollten, kehren in Särgen in ihre Heimat zurück“, sagt Boujemaa Remili, Sprecher der Regierungspartei, die seit den ersten regulären demokratischen Wahlen im Herbst 2014 Präsident und Premier stellt und mit der islamistischen Ennahda als Juniorpartner regiert. „Wir befinden uns im Krieg gegen den Terror. Die Sicherheit hat jetzt absolute Priorität“, erklärt er.

Viele in seiner Partei jedoch, die auch ein Treffpunkt alter Regimekader ist, trauen dem islamistischen Machtpartner nicht über den Weg. Ennahda (Wiedererweckung) habe ein Doppelgesicht, davon ist auch Boujemaa Remili überzeugt. Der eine Teil stimme jetzt ein in den Krieg gegen den Terror, die Mehrheit jedoch hege weiter Sympathien für radikale Strömungen.

In der Ennahda-Zentrale, in der die Parteiführung sitzt, brennen ebenfalls bis spät in die Nacht die Lichter. Fathi Ayadi ist als Präsident des Shura-Rates nach Parteichef Rachid Ghannouchi der mächtigste Mann der tunesischen Muslimbrüder. Von der Gefahr, seine Heimat könne zurückfallen in eine Diktatur, will er nichts wissen, auch wenn mancher Gesinnungsgenosse Angst hat, bald wieder wie unter Zine el-Abidine Ben Ali im Gefängnis zu landen. Aber auch er macht kein Hehl daraus, dass er dem säkularen Koalitionspartner nicht über den Weg traut.

Diese Woche wird das Parlament ein Antiterrorgesetz erlassen, das Sicherheitskräften mehr Spielraum gibt. Doch an der Kompetenz der Polizei mehren sich Zweifel. Noch Stunden nach dem Anschlag trampelten Schaulustige und Überlebende durch Blutlachen. Präsident Beji Caid Essebsi erklärte, die Terroristen seien in Armeeuniformen gekommen, was nach Zeugenaussagen und am Wochenende veröffentlichten Bildern nicht stimmt. Nach Ende der Schießerei wurde das Museum nicht systematisch nach weiteren Komplizen durchforstet, obwohl auf einem Video ein dritter Mann zu sehen ist, der mit den zwei Terroristen redet und dann verschwindet. Nach ihm wird gefahndet. Der Parlamentsvizepräsident musste einräumen, von den vier Wachen am Haupttor hätten zwei im Café gesessen, einer war einkaufen und der vierte nicht zum Dienst erschienen.

Wassil Bouzid weiß indes, dass er lange Zeit keinen Fuß mehr in das Museum setzen wird. In seinen Augen stehen Müdigkeit und Verzweiflung. Dabei hat die Saison gut begonnen. Fünf Kreuzfahrtschiffe pro Woche waren von April bis Oktober angesagt. Sie werden nun nach Malta umgeleitet. Von der Reederei aber hat bisher niemand angerufen, um ihn zu fragen, wie es ihm geht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2015)

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