Die Zeitung als Rechnungshof sozialer Qualität

Clemens Fabry
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Was ich gern lesen würde: Längere Briefwechsel anerkannter Autoritäten, Fortsetzungsromane und die Gedanken von Supermarktkassiererinnen.

Die Frage einer Zeitung an den Leser, was er schon immer hätte lesen wollen, ist entweder Koketterie oder Verzweiflung. Die dritte Möglichkeit ist, dem zum Schreiben verführten Leser eine Falle zu stellen, denn nichts würde ihm einfallen.

»Was haben wir noch nie gelesen?«

Eine Kategorie der Berichterstattung ist das Interview. Politiker werden meist nach noch nicht erledigten Vorhaben befragt und antworten mit Beschreibungen von Vorbereitungsschritten, wie der eingesetzten Expertengruppe. Eine nachdenkliche Alternative ist die Übereinstimmung mit dem Befrager und der Marginalisierung des Mangels durch Beschreibung eines entfernteren Ziels. So kann man die Hoffnungslosigkeit eines Streits mit einem Landespolitiker durch die Forderung nach einer umfassenden Föderalismusreform überhöhen.

Wirtschaftskapitäne wiederum signalisieren den Märkten ausnahmslos, für jedes Thema schon einen Plan zu haben und ihren Optimismus, es mit diesem auch lösen zu können. Der gemeinsame Nenner all dieser Phänomene ist die Vorhersehbarkeit der Antworten und damit das Synonym für die Absenz von Spannung.

Was haben wir noch nie gelesen? Wie fühlt sich ein Rettungsfahrer, wenn er in der Rolle eines Lebensretters um 18 Uhr über den Gürtel rast? Wie ist es tatsächlich, als Lehrer vor einer Gruppe von 16-jährigen Lernunwilligen zu stehen? Was geht im Kopf eines Strafrichters beim Buchen seiner Urlaubsreise vor, wenn er wenige Stunden davor einen 21-Jährigen für zehn Jahre ins Gefängnis geschickt hat, auch wenn die Schuld eindeutig war? Was bedeutet es für eine Supermarktkassiererin, der öffentliche Inbegriff eines trostlosen Berufs zu sein?

Es wäre auch schön zu erfahren, was sich wirklich im Kopf des Empfängers einer sensationell guten Mitteilung abspielt. Die Nachricht vom Lotteriegewinn oder der Juryentscheidung zum Staatspreis bewirkt im ersten Moment sicher nicht: „Ich habe nicht damit gerechnet“ oder, noch viel weniger, „Es gibt viele andere, die es mindestens so verdient hätten“.

Islamischer Staat

Eine Parallelverschiebung dieser Vorgangsweise kann man auch auf andere Berichterstattungen anwenden. „Islamic State“ löst ein genau umzirkeltes Feld von Assoziationen aus. Es reicht von unmenschlichen Religionswahnsinnigen über verlorene Jugendliche europäischer Wohlstandsgesellschaften und mittelalterliche Brutalität bis zur Inschutznahme des Islam oder dessen Verachtung. Vielleicht gibt es unserer Denkwelt zugängliche Menschen, die tatsächlich glauben, derart das Richtige zu tun. Das wird nicht Verständnis für Untaten bewirken, sondern vielleicht die schmale Grenze zwischen Gut und Böse zeigen. Wie kann es passieren, dass dasselbe für den einen entsetzlicher Horror, für den anderen der beste Weg sein kann? Was verbindet uns noch in dieser Welt außer dem Internet, das beide Sichtweisen sintfluthaft verbreitet?

Zeitungen könnten auch Plattformen der öffentlichen Mängelfeststellungen sein, ein Rechnungshof der sozialen Qualität unserer Gesellschaft. Eine Zeitung stellt eine Lücke oder einen Mangel in unserem Sozialsystem fest, sammelt Geld ihrer Leser, um sie punktuell zu schließen, und fordert von der Politik die entsprechende Verbesserung für die Zukunft ein. Die Politik würde im Eilschritt reagieren. Die Zeitung wäre Plattform, Drehscheibe und Motor zugleich, ein Wunderding der Physik.

Was wäre mit einem Briefwechsel? Kommentare sind zur pointierten Einseitigkeit verurteilt, meist gegen die intellektuelle Redlichkeit des Autors, der weiß, dass die Dinge oft mehr als nur die berüchtigten zwei Seiten bräuchten. Abgedruckte Diskussionen werden zu einem Schaukampf mehrerer Teilnehmer. Die Neugierde nach dem Sieger ersetzt die Suche nach Wahrheit.

Ein über einige Zeit laufender Briefwechsel von Autoritäten zu einem Thema hätte den langen Atem der Nachdenklichkeit, wie ihn auch die spannungserhöhende Erwartung einer Antwort auf das gerade Gelesene begleiten würde. Das beispielsetzende Vorbild könnte der Austausch von Sigmund Freud und Albert Einstein zum Thema „Warum Krieg?“ sein.

Schwarzer Schwan

Ein besonderes Phänomen unserer planungssicheren Zeit sind die welterschütternden Überraschungen. Der schwarze Schwan wurde zum neuzeitlichen Haustier. Die Finanzkrise, der Islamic State und die Ukraine haben gemeinsam, dass diese überraschenden Schrecken im Nachhinein so aussehen, als ob wir die deutlichen Anzeichen nur übersehen hätten. Was wäre mit einem Versuch, eine internationale Debatte über die bevorstehenden Ausflüge des schwarzen Schwans abzuhalten? Niemand könnte behaupten, es fiele einem nichts dazu ein. Gleichzeitig würde die Aufmerksamkeit auf wenig beachtete Themen gerichtet werden. Im Idealfall kann eine derartige Bühne dazu führen, dass der geschärfte Scheinwerferfokus zur sich selbst widerlegenden Prognose führt. Die Zeitung könnte zurecht stolz sein.

Der Fortsetzungsroman ist tot, aber warum eigentlich? Wie die meisten ungeklärten Todesfälle wird es schon eine Ursache haben. Was wäre mit einem nur über zwei Wochen gehenden Vorabdruck in Folgen, dem am Ende die Neuerscheinung eines Buches folgt? Die Zeitung würde bei ihren Lesern für einen Moment das wunderbare Gefühl auslösen, etwas vor den meisten anderen zu lernen. Der Autor und sein Verlag wären glücklich. Die Zeitung würde einen Erfolg ebnen, der sicher seine Nachfolgewünsche erzeugte.

An dieser Stelle beende ich meine Wunschliste. Ich bin mir sicher, dass Zeitungsprofis zu jedem Punkt eine Erklärung haben, warum etwas nicht geht, schon oft probiert wurde oder ohnedies gemacht wird – ich hätte es nur nicht gesehen. Wenn dem so ist, bin ich mit Freude in die mir gestellte Falle gegangen, habe mich für die Dauer meines Aufenthalts darin sehr wohl gefühlt und verlasse sie ohne schlechtes Gewissen. Wenn eine Anregung aufgegriffen wird, verzichte ich pauschal auf eine eventuelle Prämie und spende sie zugunsten der vorgeschlagenen Plattform zur Schließung von Lücken unseres Sozialsystems.

Zum Autor

Rudolf Scholten ist Generaldirektor der Oesterreichischen Kontrollbank AG (OeKB) und war von 1990 bis 1997 österreichischer Kulturminister sowie zuvor Generalsekretär des Österreichischen Bundestheaterverbands.

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