Ja, diese Augen!

Einerseits: ein politischer Aktivist mit Kamera. Andererseits: ein feinsinniger Poet des Alltags. Paul Strand, der große Fotograf des 20. Jahrhunderts – eine Wiederentdeckung.

Es war im Juli 1994, vor mehr als 20 Jahren, als ich Paul Strand zum ersten Mal in einer Ausstellung begegnete. Nicht ihm natürlich, dem Fotografen, der 1890 geboren und 1976 gestorben ist, sondern seinen Bildern. Es war zugleich das erste Mal, dass ich mich einer Fotoausstellung wegen in den Zug gesetzt hatte und ins Ausland, nach München, gefahren war. Woher ich den Hinweis auf die Schau hatte, weiß ich nicht mehr, wohl aber, dass ich vor allem ein Foto im Kopf hatte, das ich mit diesem Namen verband: die Aufnahme einer blinden Frau. Sie scheint an einer Mauer zu stehen. Es ist Winter. Ein dunkles, trostloses Bild. Wenn da nicht zwei Dinge wären: das blendend weiße Schild mit der Aufschrift „Blind“, das sie auf ihrer Brust trägt, und die Augen. Ja, diese Augen! Merkwürdig, welchen Sog diese blinden Augen, die noch dazu auf die Seite gerichtet sind, auf mich ausübten. Ich hatte dieses Foto wohl Jahre zuvor in einem Schulbuch oder in einem Magazin gesehen und es war mir im Gedächtnis geblieben. Kein Wunder. Diese blinde Frau, aufgenommen 1916 in New York, ist längst zur Ikone geworden, die weltweit und in allen Medien zirkuliert.

Als ich damals, 1994, auf dem Rückweg von München wieder im Zug saß, hatte ich mehr als dieses eine Bild im Kopf und einen Ausstellungskatalog in der Tasche, der mir inzwischen, nach zahlreichen Umzügen, abhanden gekommen ist. Besonders angetan war ich damals von einer dokumentarischen Fotoserie, die der Fotograf 1953 in der kleinen italienischen Ortschaft Luzzara aufgenommen hatte. In Strands Augen ist diese kleine Gemeinschaft von ein paar wenigen Elementen geprägt: der Arbeit, der knappen Freizeit, der Familie. Wir sehen vom Leben und der schweren Arbeit gezeichnete Gesichter in Großaufnahme, eine Familie vor ihrem Haus, einen Hinterhof, Arbeitsgerät und ein einsames Fahrrad. Zwischen der blinden Frau aus dem Jahr 1916 und der italienischen Gemeinschaft, festgehalten im Jahr 1953, liegt ein ganzes Fotografenleben. Wer also ist dieser Paul Strand?

Die umfangreichste Gesamtschau zum Fotografen, die jemals gezeigt wurde, gibt nun einige neue Antworten darauf. Erarbeitet wurde das Ausstellungsprojekt im Philadelphia Museum of Art, wo heute der größte Teil der Strand-Fotosammlung beheimatet ist. Derzeit ist es im Fotomuseum Winterthur zu sehen, der einzigen Station dieser Schau im deutschsprachigen Raum.

„Dick und langsam“ sei er damals gewesen, so erinnerte sich die bekannte amerikanische Künstlerin Georgia O'Keeffe in den 1980er-Jahren an ihre erste Begegnung mit dem Fotografen Paul Strand. Mit „damals“ meinte sie das ferne Jahr 1917, jenes Jahr, als in Europa der Erste Weltkrieg ins dritte Jahr ging und die USA vor dem Kriegseintritt standen. Kurz zuvor hatte sie den 27-jährigen Fotografen in New York kennengelernt – und war wie elektrisiert von seinen Bildern. Denn seine langsame, behäbige Arbeitsweise, die er übrigens sein ganzes Leben lang beibehalten sollte, schien ganz und gar nicht den Fotos zu entsprechen, die er damals machte.

Neue, unerhörte Bilder

Zwei Jahre zuvor hatte Strand begonnen, mit seinem Fotoapparat neue, für die damals herrschende Ästhetik geradezu unerhörte Bilder zu machen. Plötzlich ließ er die weichgezeichneten, idyllischen Landschaftsstudien hinter sich und hielt die Stadt New York, ihre Gebäude, Straßen und Menschen in hartem, kontrastreichem Schwarz-Weiß fest. Er lichtete Straßen und Passanten von oben ab, hielt Brücken und Viadukte, Hinterhöfe und ineinander verschachtelte Gebäude in ungewohnten Perspektiven fest. Kurz, er tauchte die Stadt in ein neues Licht.

Paul Strand ließ in diesen bald für ihre Modernität gerühmten Aufnahmen die Wirklichkeit fremd und eigenartig anmuten. Er brachte sie mit seiner Kamera aus dem Lot: etwa, indem er so nahe an die Dinge heranrückte, dass sie in Licht- und Schattenspielen aufgingen. Aber auch, indem er die Kamera buchstäblich drehte, bis der Ausschnitt neue, ungewohnte Muster eröffnete.

Im Herbst 1916 fotografierte Strand ganz andere Szenen. In einer Fotoserie, die er in der Lower East Side, einem armen New Yorker Einwandererviertel, aufnahm, porträtierte er in beeindruckenden Nahaufnahmen Menschen auf der Straße. Nicht Geschäftsleute, nicht Büroangestellte, nicht geschäftige Handwerker, sondern Leute, die auf der Straße lebten oder viel Zeit hier verbrachten: Bettler, Obdachlose, Säufer, Alte. Jene also, die in immer neuen Einwandererwellen nach New York gespült wurden und die noch nicht oder nicht mehr Fuß fassen konnten. Unter diesen bedauernswerten Gestalten ist auch die blinde Frau. Unverkennbar wendet sich Strand, der selbst einer böhmischen Einwandererfamilie entstammte, mit Anteilnahme diesen Gestrandeten zu, ohne ihre Lage im gefälligen Genrebild zu verklären.

Kühle Abstraktion auf der einen Seite und dokumentarische Sozialstudie auf der anderen: Wie gehen diese beiden auf den ersten Blick so weit entfernten Seiten im Werk von Paul Strand zusammen? Um darauf eine Antwort zu finden, muss man sein fotografisches Werk mit seinem Leben und seinem politischen Engagement verbinden. Sein fulminanter Aufbruch in die Moderne in den 1910er-Jahren, der von zahlreichen Zeitgenossen (etwa dem Fotografen Alfred Stieglitz oder dem Maler und Fotografen Alvin Langdon Coburn) applaudierend und unterstützend wahrgenommen wurde, blieb keineswegs ein lebenslang unveränderliches Programm. Er wechselte nicht nur zwischen den Medien Film – sein Debüt hatte er 1921 mit dem experimentellen Stadtfilm „Manhatta“ – und der Fotografie. Zeitlebens pendelte er auch zwischen der scheinbar selbstvergessenen, oft geradezu elegischen Beobachtung von Menschen, Dingen und Natur einerseits und dem starken Willen nach politischer Intervention.

Auf die Reise- und Naturstudien der 1920er-Jahre, die ihn oft weit weg von der brodelnden Metropole New York, in der er aufgewachsen war, führten und ihm – ein wenig in der Nachfolge von Walt Whitman – das ländliche Amerika erschlossen, folgten in den 1930er-Jahren politisch engagierte Bilder. Strand wandte sich in diesen Jahren bewusst der politischen Linken zu, wurde unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise zum eifrigen Verfechter von Franklin D. Roosevelts New Deal, engagierte sich ab 1936 in der progressiven Fotogruppe „Photo League“, machte mehrere sozial engagierte Dokumentarfilme und gehörte in den 1940er-Jahren der linken American Labor Party an.

Anfang der 1930er-Jahre wurde Mexiko für ihn einige Jahre lang zum Gegenbild des kalten und berechnenden kapitalistischen Systems, wie er es aus den USA kannte. Er lebte zeitweise in Mexico City, arbeitete dort im Auftrag der Regierung als Foto- und Filmlehrer, stellte aus, bereiste das Land und kultivierte die Kontakte zur linken mexikanischen Kunst- und Kulturszene. Strand war fasziniert von der Kultur der indigenen Bevölkerung, vom Leben auf dem Land und von der religiösen Volkskultur.

Ende April 1945, der Krieg näherte sich seinem Ende, feierte Strand seinen bis dahin größten Erfolg. Das renommierte New Yorker Museum of Modern Art zeigte in einer breit angelegten Retrospektive einen Querschnitt durch sein gesamtes Werk. Aber die Anerkennung in der Kunstwelt täuschte. Denn bald darauf schlug die politische Stimmung um. Präsident Roosevelt, der Strand sehr geschätzt hatte, starb 1945, allmählich schlitterte die Welt in eine neue, gefährliche Frontstellung: den Kalten Krieg. Unter Joseph McCarthy begann eine Hetze gegen alles, was in den USA als links galt. Auch Paul Strand geriet ins Visier des FBI, er wurde vorgeladen, verhört, überwacht und auf seinen Auslandsreisen behindert. Vier Jahre lang wurde ihm sein Pass entzogen.

Um diesen Nachstellungen und den andauernden beruflichen Schikanen zu entgehen, ließ er sich 1950 in Frankreich nieder. Er war nun vom Film zur Fotografie zurückgekehrt, reiste viel, zunächst in Europa, später auch in Afrika (Italien: 1953; Hebriden, Schottland: 1954; Ägypten: 1959; Rumänien: 1960; Ghana: 1963/64). An die Stelle der politisch engagierten Dokumentarfilme traten Ausstellungen und Fotobände. Der Fotograf schien sich nun wieder der Faszination der ländlichen Welt zu entsinnen, die er in den 1920er-Jahren entdeckt hatte.

In seiner Arbeitsweise zog er die gemächliche Gangart des Landlebens ohnehin der großstädtischen Hektik vor. Paul Strand nahm sich beim Fotografieren Zeit, viel Zeit. Noch in den 1960er-Jahren, als die Vertreter der Street Photography längst ihre kleinen Apparate zückten, baute Strand sein Stativ auf, auf dem er die schwere Kamera positionierte. Auf einem Bild, das Hazel Strand, seine dritte Frau, aufgenommen hat, sehen wir auf dem Fuß des Dreifußes gemütlich eine Katze sitzen. Der Fotograf mit seinen bedächtigen Handbewegungen schien sie nicht im Geringsten zu stören.

Einfache Menschen in großer Würde

In Strands fotografischer Welt mischen sich in immer neuen Dosierungen politisches Interesse und die aufmerksame Hingabe an Menschen und Dinge. Wenn wir nur die Fotos aus der italienischen Ortschaft Luzzara betrachten, die er 1953 aufgenommen hat, könnten wir versucht sein, den Fotografen als Nostalgiker einer archaischen Welt zu sehen. Aber das war er keineswegs. Nicht zufällig hat er diese Ortschaft in der Emilia Romagna ausgesucht. Sie war klein, kommunistisch geprägt und zudem die Heimat des befreundeten Drehbuchautors Cesare Zavattini.

Strand fotografierte nicht nur, er sprach viel mit den Menschen, ließ sich ihre Welt, ihre Geschichte und Geschichten erzählen. Das fotografische Porträt, das er in Luzzara, aber auch auf den Hebriden, in Ägypten und Ghana schuf, zeigt einfache Menschen in großer Würde. Aber nicht nur diese. Immer ließ der Fotograf auch seinen Blick schweifen, über Pflanzen, Wurzeln, Bäume, Felsen. Auch die Natur gehörte für ihn zum Porträt einer Gemeinschaft.

Als Paul Strand 1971, er war nun schon über 80 Jahre alt, für eine Ausstellung seiner Bilder nach Philadelphia reiste, wurde er – als alter Linker – auch zum Vietnamkrieg befragt. Er herrschte den Journalisten an, sofort das Aufnahmegerät auszuschalten. Offenbar hatte er, der zeitlebens viel über Politik gesprochen hatte, schon alles Bedeutsame dazu gesagt. Nun wollte er seine Bilder sprechen lassen, die subtiler und mehrdeutiger sind als das gesprochene Wort der Tagespolitik. ■


Die Ausstellung „Paul Strand. Film und Fotografie für das 20. Jahrhundert“ ist bis 17. Mai im Fotomuseum Winterthur zu sehen. Begleitend zur Schau ist der umfangreiche Katalog „Paul Strand. Master of Photography“, herausgegeben von Peter Barberie und Amanda N. Bock, erschienen (Philadelphia Museum of Art/Yale University Press).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2015)

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