Einstein zeigt: Nicht nur Zitate zählen

Wissenschaftliche Arbeiten müssen nicht sofort erfolgreich sein. Das zeigt ein Artikel von Einstein und Kollegen, der 85 Jahre nach Erscheinen neue Bedeutung erhielt.

Im Jahr 1935 verfasste Albert Einstein mit seinen jungen Kollegen Boris Podolsky und Nathan Rosen einen Artikel mit dem Titel „Can Quantum-Mechanical Description of Physical Reality Be Considered Complete?“ Diese Arbeit wurde von den Physikern für lange Zeit de facto ignoriert. Sie erhielt unmittelbar nach ihrem Erscheinen nur sehr wenige Zitationen (darunter verstehen Naturwissenschaftler das Zitieren anderer wissenschaftlicher Publikationen in einem Artikel, Red.), und dann für etwa 30 Jahre gar keine. Danach ging es allmählich los, bis im Jahr 2000 die Arbeit immerhin 50-mal pro Jahr zitiert wurde. So begann ein sprunghafter Anstieg der Zitationen. Heute wird sie im Durchschnitt einmal pro Tag, also mehr als 300-mal im Jahr zitiert.

»Wie viel müssen Wissenschaftler schreiben?

«

Was war geschehen? Die Arbeit führte ein neues Konzept in die Auseinandersetzung mit der damals noch ganz jungen Quantenphysik ein. Diese danach von Erwin Schrödinger so benannte Verschränkung wurde von ihm als das wesentliche Charakteristikum der Quantenphysik bezeichnet, jedoch von Einstein als „spukhafte Fernwirkung“ abgelehnt. Die Zitationen der Arbeit gleich nach dem Erscheinen waren zwar wenige, aber nicht von schlechten Eltern: immerhin zwei von Erwin Schrödinger und eine von Niels Bohr. Die Arbeit wurde danach für Jahrzehnte ignoriert, weil die Beschäftigung mit den Grundlagen der Quantenmechanik nicht populär war bzw. sogar als „nur philosophisch“ abgetan wurde. Wolfgang Pauli etwa hatte bemerkt, dass es genauso wenig Sinn mache, über solche Fragen nachzudenken, wie über die alte scholastische Frage, wie viele Engel auf der Spitze einer Nadel Platz hätten.

Mitte der Sechzigerjahre hat dann der irische Physiker John Bell jedoch entdeckt, dass die philosophische Grundkonzeption der EPR-Arbeit, der sogenannte lokale Realismus, im Gegensatz zu gewissen Vorhersagen der Quantenphysik für bestimmte Experimente an verschränkten Teilchen steht. Es begannen Experimente, um zu überprüfen, wer recht hat, Einstein oder die Quantenphysiker. Experimente, die schließlich die Vorhersagen der Quantenphysik bestätigten. Dadurch wurde ein Weltbild gestürzt. Die Welt lässt sich also nicht lokal und realistisch verstehen. Lokal würde bedeuten, dass es keine instantanen Fernwirkungen gibt, und realistisch heißt, dass Messergebnisse immer eine vor der Messung bereits vorhandene Eigenschaft reflektieren. Es sei jedoch betont, dass, genauso wie Einsteins und Schrödingers frühe theoretische Überlegungen, die Experimente auch wieder nur durch reine wissenschaftliche Neugier und philosophische Kuriosität motiviert waren.

Die Explosion an Zitationen im Jahr 2000 wurde durch etwas völlig Unerwartetes verursacht. Plötzlich stellte sich heraus, dass Verschränkung nicht nur eine philosophische Kuriosität darstellt, sondern in neuen Technologien der Informationsverarbeitung und Informationsübertragung eine zentrale Rolle spielt. Schlagworte sind etwa Quantenkryptografie, Quantenteleportation, Quantenkommunikation und der Quantencomputer.

Das Interessante an der Tatsache der heute so häufigen Zitationen dieser Arbeit ist auch, dass, obwohl die Position der Einstein-Podolsky-Rosen-Arbeit ja mittlerweile durch Experimente widerlegt wurde, ihr Grundansatz, nämlich die Einführung der Verschränkung, sich als unüblich erfolgreich erwiesen hat. Inspiration für Technologie. Dies ist ein wunderschönes Beispiel dafür, dass sogar eine falsche Ansicht wissenschaftlich fruchtbar sein kann. Und auch ein Beispiel dafür, dass wissenschaftliche Forschung, die ausdrücklich durch Neugier motiviert ist und nicht durch Anwendungen, wie es bis etwa 2000 der Fall war, plötzlich die Möglichkeit für unglaubliche neue Technologien eröffnet. Es ist meine persönliche Überzeugung, dass die künftige Informationstechnologie, also Computer und Internet der Zukunft, auf diesen Konzepten aufbauen wird.

Aus dieser Geschichte kann man aber noch etwas lernen. Heute ist es Mode geworden, die Bedeutung wissenschaftlicher Zeitschriften an der Zahl der Zitationen zu messen, die die Artikel dieser Zeitschrift in den ersten zwei Jahren nach der Publikation erhalten. In diesem Sinn war Einsteins Arbeit völlig unbedeutend. Sie blieb es bis 30 Jahre nach ihrer Publikation. Da jedoch heute auch die Karrieren von jungen Menschen oft durch Zitationszahlen beeinflusst werden, kann ich mir die Bemerkung nicht verkneifen, dass Einstein für diese Arbeit sicher keine Dauerstelle an irgendeiner Universität erhalten hätte.

Das Messen der Qualität von wissenschaftlichen Zeitschriften oder gar von Einzelpersonen aufgrund ihres Impacts, d. h. ihrer Zitationsraten, hat zu einigen Fehlentwicklungen im wissenschaftlichen System geführt, wie von vielen Seiten bemerkt wurde. Es ist klar, dass ungewöhnliche neue Ideen, die ihrer Zeit voraus sind, in einem solchen System keine Chance haben. Es ist auch klar, dass diese Impactfaktoren relativ leicht manipuliert werden können, sowohl von den Autoren als auch von den Journalen. Einzelfälle dazu wurden klar nachgewiesen. Um diesen Entwicklungen ein wenig entgegenzutreten, haben viele wissenschaftliche Gesellschaften und viele Journale weltweit die San Francisco Declaration unterschrieben (leicht im Internet zu finden), die vor allem betont, dass nicht die Zitationsrate eines Artikels wichtig ist, sondern der Inhalt. Dieser Inhalt kann natürlich nur von auf diesem Gebiet qualifizierten Fachkollegen beurteilt werden. Wenn dann alle Publikationen vorwiegend von Fachkollegen auf ihre Qualität hin beurteilt werden, dann schließt sich die Lücke in der Frage der Messbarkeit zu den Geisteswissenschaften. Dort ist es ja sehr schwer bis unmöglich, einen Impactfaktor zu etablieren, daher muss die Bewertung tatsächlich im Wesentlichen über Fachkollegen laufen.

Letztlich kann es jedoch nur darum gehen, welche Ideen sich langfristig durchsetzen. Dass dies sehr lang dauern kann, sieht man an der Einstein-Podolsky-Rosen-Arbeit, was aber klarerweise der Bedeutung der dort veröffentlichten Ideen keinerlei Abbruch tut.

Autor

Anton Zeilinger, geboren 1945 in Ried im Innkreis, wurde mit Arbeiten über Quantenteleportation (Beamen), Büchern wie „Einsteins Spuk“ und zahlreichen internationalen Preisen zum wohl populärsten Physiker Österreichs. Seit 2013 ist er Präsident der Akademie der Wissenschaften.

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