Ob Kartnig, Hypo oder Immofinanz: Strafprozesse nach alter Rechtslage könnten nach einem VfGH-Erkenntnis neu aufgerollt werden. Das Gesetz war rechtswidrig.
Wien. Seit heuer gelten neue Regeln, wenn es um die Bestellung von Gerichtsgutachtern geht. Der Beschuldigte darf nun bei der Auswahl des Sachverständigen mitreden. Doch in den vergangenen Jahren war das nicht so. Und dieser mangelnde Rechtsschutz ist der Grund dafür, dass einige Angeklagte, darunter auch diverse Prominente, seit Donnerstag neue Hoffnung schöpfen dürfen.
Denn der Verfassungsgerichtshof (VfGH) entschied, dass die bis Ende 2014 angewandten Regeln rechtswidrig waren. Profiteure davon sind Personen, die erstinstanzlich nach den alten Regeln verurteilt wurden – und deren Verfahren nun beim Obersten Gerichtshof (OGH) liegen. In diesen Fällen muss nun extra geprüft werden, ob der (im Verfahren erster Instanz) eingesetzte Gutachter unvoreingenommen war.
Hauptpunkt der Kritik am alten Gesetz war, dass im Vorverfahren derselbe Gutachter tätig wird wie später im Strafprozess. Das hatte die Politik einst als Sparmaßnahme eingeführt. Doch im Vorverfahren ist der Gutachter quasi eine Hilfsperson der ermittelnden Staatsanwaltschaft. Kann dann derselbe Gutachter in dem auf den Ermittlungen fußenden Strafprozess auch noch als objektiver Gutachter für den Richter tätig werden? Nein, meinten Angeklagte immer wieder und beschwerten sich darüber, dass sie gar kein Mitspracherecht bei der Auswahl des Sachverständigen hatten.
Beim VfGH stieß diese Argumentation auf offene Ohren. Das VfGH-Erkenntnis kommt etwa Karl Petrikovics zugute. Der einstige Immofinanz-Chef war erstinstanzlich wegen Untreue verurteilt worden. Der OGH selbst hatte in diesem Fall Zweifel angemeldet, ob das Gesetz fair ist. Oder ob es gegen das in der Verfassung verbriefte Recht auf ein faires Verfahren verstößt. Darum bat der OGH im Vorjahr die Verfassungsrichter, diese Frage ein für alle Mal zu klären.
Hannes Kartnig, einst Präsident des Fußballklubs Sturm Graz, rief den VfGH hingegen heuer gleich selbst zu einem seiner Verfahren an (es geht um eine siebenmonatige Haftstrafe, seit Jahresbeginn dürfen Betroffene eines Prozesses selbst Gesetzesbeschwerde an den VfGH erheben). Aber auch in diversen Strafverfahren rund um die Hypo oder Telekom müssen nun die Gutachter neu überprüft werden. Und noch in einigen anderen Causen. In wie vielen, das weiß niemand.
Denn der VfGH beschränkte die Wirkung seiner Entscheidung nicht auf die Fälle, die bei ihm einlangten. Sondern er entschied, dass die Richterkollegen vom OGH die alten Regeln über die Gutachterbestellung in gar keinem Fall mehr anwenden dürfen.
Doppelgutachten nicht generell illegal
Gleichzeitig machte der VfGH aber klar, dass es nicht grundsätzlich verpönt ist, wenn die Justiz im Vorverfahren und im Prozess denselben Gutachter einsetzt. Aber das Gericht müsse im Einzelfall prüfen, ob der Gutachter im Hauptverfahren noch objektiv sein kann. So eine Prüfung war nach den alten Regeln per Gesetz untersagt.
Für anhängige Fälle nach alter Rechtslage bedeutet dies, dass der OGH diese Prüfung nun nachholen muss. Oder die Unterinstanz noch einmal mit dem Fall betraut. Wie das Prozedere genau vonstattengehen wird, konnte der OGH am Donnerstag nicht sagen. Man müsse die Entscheidungen der zuständigen Senate abwarten, wurde betont.
Klar scheint aber: War in einem Fall tatsächlich ein befangener Gutachter am Werk, müsste der Prozess neu aufgerollt werden.
Kein Nutzen, wenn Urteil rechtskräftig
Ein Pech dürften Leute haben, deren Verfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen sind. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens ist laut Strafprozessordnung zwar möglich, wenn neue Beweise oder Tatsachen auftauchen. Aber nicht, wenn sich – wie in diesem Fall – die Rechtslage verändert habe, sagt Strafrechtsprofessor Helmut Fuchs zur „Presse“.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2015)