Armenpriester Pucher: "Luxus, weil für uns Sklaven arbeiten"

Wolfgang Pucher, Pfarrer von St. Vinzenz in Graz und Kopf der Vinziwerke für Obdachlose und Bettler.
Wolfgang Pucher, Pfarrer von St. Vinzenz in Graz und Kopf der Vinziwerke für Obdachlose und Bettler.Die Presse
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Der Armenpriester Wolfgang Pucher bezeichnet das Prinzip "Geiz ist geil" als Sünde. Die EU sieht er lediglich als Wirtschafts-, nicht als Werteunion.

Herr Pfarrer Pucher, Sie betreuen seit 25Jahren Obdachlose und Bettler. Kommt das nicht einer Einladung nahe, nach Österreich zu kommen?

Wolfgang Pucher: Bevor wir sie betreut haben, waren sie auch schon in großer Zahl da. Ein Beispiel: Vor zwei Jahren haben wir mit einer Betreuungsform für Familien mit Kindern aus Rumänien begonnen. 2013/2014 waren das in Graz 179 Personen, darunter 43 Kinder. Heute sind es 31 Menschen, darunter elf Kinder, bei der Caritas sind es 50Personen. Zunächst hat sich die Zahl erhöht, aber nachdem bemerkt wurde, dass die Bettenzahl beschränkt ist, hat sich das nach kurzer Übergangsphase eingependelt.

Nach einer Phase, in der so etwas wie Sozialtourismus entsteht.

Man kann die Roma nicht als Sozialtouristen bezeichnen. Wenn man die Situation in den Herkunftsländern betrachtet, in der Slowakei, in Rumänien und Bulgarien, dann ist klar: Das ist eine Flucht aus extremer Not.


Eine derartige Not ist in manchen Ländern wahrscheinlich noch größer, wenn man beispielsweise an Afrika denkt.

Die Menschen, die an den Pforten Europas klopfen, sind zahllos. Wenn sie könnten, würden sie alle kommen.


Europa wird sie aber wohl nicht alle aufnehmen können.

Wir müssen zumindest dort, wo es Berührungspunkte gibt, Solidarität üben. Unseren Luxus können wir uns nur leisten, weil für uns fern von uns Sklaven arbeiten, die im Elend sind. Wir könnten uns Autos und Digitalgeräte nicht leisten, wenn es nicht Arbeitssklaven gebe. Da haben wir die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, diesen Sklaven, sofern sie es schaffen, zu uns zu kommen, eine Chance zu geben.

Wäre das nicht eine Hausaufgabe für die Länder, in denen diese, wie Sie es nennen, Arbeitssklaven, leben, für bessere gesetzliche, soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu sorgen?

Kaum werden die Löhne erhöht, wandert die importierende Firma in das nächste Land. Die EU ist ein Wohlstandsgebiet, das die Verpflichtung hat, sich, soweit es nur irgendwie möglich ist, zu öffnen für Menschen, die am Rande des Verhungerns leben.


Unternehmen folgen einer betriebswirtschaftlichen Logik und wollen Kosten reduzieren, auch weil Konsumenten niedrige Preise wollen. Sollte die Einfuhr aus Ländern beschränkt werden, die sich nicht an bestimmte soziale Standards halten?

Ja. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die EU ist leider eine Wirtschafts- und keine Werteunion. Produkte, die unter Bedingungen zustande kommen, die nicht gewissen Standards entsprechen, dürften gar nicht in die EU importiert werden.


Wo bleibt die Verantwortung der Konsumenten?

Wir können nicht blind nur nach dem Vorteil Ausschau halten. Wenn ,Geiz ist geil‘ das Prinzip ist, dann sage ich als Theologe: Das ist eine Sünde.

Worin genau liegt das Sündhafte?

Wenn ich, obwohl ich es mir leisten könnte, nicht Dinge kaufe, die zwar etwas teurer sind, aber andere Menschen schützen – Fair Trade als Beispiel –, dann ist das eine Sünde. Shoppen ist ein schrecklicher Begriff. Shoppen heißt, ich brauche gar nichts, aber habe so viel Geld, dass ich schauen muss, ob ich etwas für mein Geld finde.

Unsere Wirtschaft würde ziemlich anders aussehen, und weniger Menschen hätten Arbeit, wenn alle nur kaufen würden, was sie dringend benötigen.

Es gibt so viele Bereiche, wo wir alle zusammen dazu beitragen könnten, dass die Welt menschenwürdiger und gerechter wird. Da soll man nicht schwarz-weiß denken: Würden alle leben wie der Heilige Franz von Assisi, wäre alles kaputt. Das war ja nicht seine Botschaft. Die Botschaft war: Ich habe zu viel, und ich muss nicht so viel haben. Dann hat er einen Bettelorden gegründet. Natürlich geht es nicht, dass alle vom Betteln leben. Aber die Botschaft war eindeutig. Es würde genügen, dass zu Hause nur in den Kühlschrank kommt, was ich auch wirklich esse. In Wien wird täglich so viel Brot weggeworfen, dass ich Graz mit Gratisbrot versorgen könnte. Da ist die Grundeinstellung falsch, die lautet: Was ich mir leisten kann, das leiste ich mir, und was das für Folgen hat, das interessiert mich nicht. Es gibt eine Verantwortung vor Gott und den Menschen.

Ist nicht auch Franz von Assisi schon zu Lebzeiten gescheitert, und steht nicht Papst Franziskus mit dem Wunsch nach einer armen Kirche vor einem ähnlichen Scheitern?

Alle gesellschaftlichen Veränderungen haben ganz klein begonnen. Ich lasse mir nicht ausreden, dass das Christentum die Welt verändert hat.

Sie müssten sich unter diesem Papst besonders wohl fühlen. Ist das so?

Ja.

Die Zeichen des Papstes werden von den Menschen verstanden. Aber wie weit gelingt es ihm, nachhaltig, strukturell etwas zu bewegen, auch innerhalb der Kirche?

Die großen Dinge geschehen nicht immer von heute auf morgen. Das, was der Papst jetzt ausgelöst hat, kann nicht mehr zurückgenommen werden. Der nächste Papst kann nicht mehr in den schrecklichen roten Schuhen gehen.

Fühlen Sie sich in der Kirche selbst, mit Ausnahme der Caritas, ausreichend unterstützt? Sehr hervorgetan haben sich die Pfarren zuletzt ja nicht bei der Unterbringung von Obdachlosen oder Asylwerbern.

In der Steiermark ist das passiert. Aber Sie haben recht: Wenn in Österreich jeder leere Raum eines Pfarrhauses für einen Obdachlosen zur Verfügung gestellt werden würde, wäre die Obdachlosigkeit in Österreich überwunden. Und es gebe noch immer leere Räume.


Fühlen Sie sich ein wenig alleingelassen, auch von den Bischöfen?

Hier geschieht zu wenig, es wird zu wenig deutlich gesprochen und zu wenig gemacht – in allen Institutionen, in der gesamten Gesellschaft. Wir müssen insgesamt menschlicher werden, solidarischer, mitleidsvoller, als Christ sage ich barmherziger. Das betrifft auch alle Institutionen, die nichts anderes als das Vergnügen im Sinn haben, ob das ein Golfklub ist...

Wollen Sie den Menschen das Vergnügen nehmen?

Das ist eine infame Frage.


Weshalb?

Weil sie den Punkt, der wirklich wehtut, untergräbt. Der Punkt, der wehtut, ist, dass so viel gelitten wird und so viel weggeschaut wird, weil man sich selbst das Leben schöner und leichter machen kann und will.


Aber alle Daten weisen darauf hin, dass es der Menschheit insgesamt noch nie so gut gegangen ist.

Der Trend ist da. Man muss aufpassen, dass man vor lauter Daten den Einzelnen nicht vergisst. Die Armutsflüchtlinge, die zu uns kommen, sind nicht die Ärmsten. Die Ärmsten, die beispielsweise kein Geld für einen Schlepper haben, bleiben zurück.


Ihre harte Wirtschaftskritik erinnert an Papst Franziskus, der auf Auswüchse bezogen meint: „Diese Wirtschaft tötet.“ Wie könnte denn ein anderes, besseres Wirtschaftssystem aussehen?

Die soziale Marktwirtschaft ist keine so schlechte Idee – wenn man das Wort sozial drei Mal unterstreicht.


Mit dem Papst werden hohe Erwartungen verknüpft. Was erwarten Sie denn von der Familiensynode im Herbst?

Ich bin sehr unruhig, weil die heißen Eisen alle nicht angegriffen wurden. Wenn eine Frau sich scheiden lässt, weil ihr Mann ihr furchtbare Dinge angetan hat, und nicht mehr Zugang zu den Sakramenten hat, dann ist das nicht christlich. Das Christentum lebt von der Barmherzigkeit.

Wie lösen Sie das Spannungsverhältnis zwischen Barmherzigkeit und der Unauflöslichkeit der Ehe, die ja in einem Jesus-Wort gründet?

Unsere Kirche ist zu sehr legalistisch, zu sehr gesetzesorientiert. Für mich gehört der Codex Iuris Canonici (Kirchengesetzbuch, Anm.) in einen Tresor gesperrt, zu dem nur wenige Zutritt haben. Der hat nichts verloren im Leben der Gemeinden. Wir haben von Jesus noch nicht gelernt, barmherzig mit den Menschen umzugehen. Es gibt mehr Probleme, die man angreifen müsste.


Den Zölibat beispielsweise?

Wenn man den Zölibat belassen wollte, sollte man jenen, die gescheitert sind, die Möglichkeit eröffnen, trotzdem eine priesterliche Aufgabe beizubehalten. Der Pflichtzölibat gehört durch den freiwilligen ersetzt.

Herr Pucher, darf man Sie auch fragen...


1. . . ob Ihnen der ständige Kontakt mit Menschen, die bei Ihnen Hilfe suchen und in Not sind, persönlich nicht manchmal auch zu viel wird?

Das kommt vor, wenn Menschen nicht verstehen, dass ich an einer Grenze bin, wo ich nichts mehr bieten kann, wenn ich kein Bett mehr zur Verfügung habe. Das ist schlimm.

 2. . . ob Sie sich selbst eigentlich auch einmal Urlaub gönnen und einfach weg sind?

Natürlich. Im Sommer, da bin ich aber per Handy erreichbar, und ich bin auch schon zweimal in Notfällen vorzeitig zurückgekehrt.

3... ob Sie sich in Ihrer Jugend einen anderen Beruf vorstellen hätten können?

Ja. Als junger Mensch hätte ich mich auch dafür interessiert, Arzt zu werden. Aber eigentlich wollte ich immer Priester werden.

Steckbrief

1939
Geburt in Hausmannstätten bei Graz

1958
Beitritt zu den Lazaristen

1963
Priesterweihe

1969–1973
Internatsleiter am St.-Georgs-Kolleg in Istanbul

1973
Übernahme der Pfarre Graz-St.Vinzenz

1990
Gründung der Jugend-Vinzenzgemeinschaft Eggenberg, aus der 38Einrichtungen entstehen: VinziBus, VinziNest, VinziDorf, VinziMed, VinziMarkt, VinziHelp. Täglich Betten für bis zu 450 und Essen für 1400 Menschen

2005
Wahl zum „Österreicher des Jahres“ durch die „Presse“-Leser

27. Juni 2015

Fest 25 Jahre Vinzenzgemeinschaft auf dem Grazer Hauptplatz

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2015)

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