Digitalmedien: Auf Sendung gehen mit dem Handy

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Die Zukunft des Journalismus kommt in Echtzeit. Jedes Ereignis kann heute zum Live-Event werden – dank neuer Handy-Apps wie Periscope und Meerkat.

In Deutschland schlüpft ein Straußenküken. Das ZDF ist live dabei und stellt ein Video von dem kleinen Geschöpf, das völlig fertig mit dem Kopf in der Eierschale eingeschlafen ist, ins Netz. Sofort laufen die ersten Kommentare – ebenfalls in Echtzeit – an der linken unteren Ecke über den Bildschirm.

„Süüüüüüß“, finden es die einen. Wie bunte Seifenblasen streben kleine Herzchen in Pink, Grün, Gelb nach oben, die User können sie verschicken, wenn ihnen etwas gefällt – dagegen wirkt ein „Like“ auf Facebook wie ein emotionsloser Fingerzeig. Andere hielten das, was sie da sahen, für „Social Media Quatsch“ oder sogar für einen Aprilscherz.

Wenn sich die Skeptiker da nur nicht täuschen. Denn so banal viele der Inhalte auch sind, die die ersten User der erst vor wenigen Tagen gestarteten App Periscope ins Netz stellen – das Potenzial der neuen Technik ist groß. Als am 26.März eine Gasexplosion im New Yorker Stadtteil East Village einen Häuserkomplex in Brand setzte und teilweise zum Einsturz brachte, dauerte es nur wenige Minuten, bis die ersten Early Adopter ihre Smartphones in Position brachten und die Bilder als Livestream in die Welt schickten.

Schon bald habe er zwischen zehn Kameraperspektiven wählen können, berichtete Medienbeobachter Richard Gutjahr in seinem Blog. Als Beta-Tester konnte er Periscope vor allen anderen ausprobieren – und prophezeit, dass das neue Fern-Sehen zum Mainstream werden könnte.

Klassischer Fernsehjournalismus ist in einigen Punkten im Nachteil. Die Übermacht der Handy-User ist schneller. Und sie ist überall. Neue Livestream-Apps wie das zu Twitter gehörende Periscope oder das kurz zuvor gestartete Meerkat (was auf Englisch „Erdmännchen“ bedeutet) können aus jedem Smartphone-Besitzer einen Livereporter machen – ohne große Technik, ohne zusätzliche Kosten, ohne Aufwand.

Demokratisierungsschub

Es reicht, die App herunterzuladen und dann die Videofunktion zu starten – schon werden die anderen User zu Augen- und Ohrenzeugen. In New York seien nach kurzer Zeit zehn Livestreams von der Gasexplosion und von den Löscharbeiten auf Periscope gelaufen, schreibt Gutjahr.

Die News-Sender waren zu dem Zeitpunkt mit ihren Ü-Wägen noch nicht einmal dort und konnten nicht mehr liefern als eingeblendete Laufbänder mit den Breaking News und Informationen aus der Konserve (z. B. Karten vom Ort des Geschehens). „Wir sind auf Sendung! Dieser Satz ist spätestens in diesen Tagen demokratisiert worden“, schreibt Dirk von Gehlen in seinen „Digitalen Notizen“. Die Analyse, den Hintergrundbericht, den profunden Kommentar macht den TV-Stationen so schnell keiner streitig, aber beim Livestreaming müssen sich die Redaktionen der Masse geschlagen geben.

Die stellt freilich vor allem eines in die App: Banalitäten. Auch Medienexperten wie „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann gehen est einmal in den Experimentiermodus. Vergangene Woche filmte Diekmann seine Heimfahrt mit dem Auto im Berliner Abendverkehr und kommentierte die Live-Notizen der anderen User, stellte Fragen wie: „Kann man da nebenbei auch telefonieren?“

Ein Live-Chat also. Auch das ist eine neue Dimension des Fern-Sehens. Eine, die die TV-Stationen in einigen Formaten schon versucht haben. Bei Periscope kommen Fragen, Antworten und Anmerkungen in Echtzeit auf den Bildschirm. Man sieht außerdem, wie viele andere Menschen gerade das Video ansehen. Das Video wird nach der Live-Ausstrahlung allerdings nur 24 Stunden gespeichert.

Die Frage, ob man während des Autofahrens überhaupt filmen und auf die ständig aufpoppenden Kommentare der live zugeschalteten User reagieren darf – die stellte sich „Bild“-Chefredakteur Diekmann offenbar nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2015)

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