Syrien: Gefangen in der Hölle von Yarmouk

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Der IS hat das palästinensische Flüchtlingscamp in Damaskus erobert. Dort sind 3500 Kinder eingeschlossen.

Yarmouk ist zur tödlichen Falle geworden. Ohne Wasser, ohne Nahrungsmittel, ohne Medikamente verschanzen sich derzeit die verängstigten Einwohner des palästinensischen Flüchtlingslagers nahe Damaskus in ihren Häusern. Leichen liegen in den Straßen, viele Kinder sind darunter. Doch kaum jemand traut sich, die verwesenden Körper zu bergen – oder auch nur, den vielen Verletzten zu helfen. „Scharfschützen schießen wahllos auf jeden, der die Straße betritt“, berichtet via Satellitentelefon ein Mann aus dem belagerten Camp der BBC.

Seit die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vor einer Woche in den Vorort der syrischen Hauptstadt eingedrungen ist, herrscht dort das Grauen. Hunderte Menschen sollen bereits ermordet worden sein. Etwa 18.000 Personen sind schutzlos der Gewalt der Extremisten ausgesetzt: Berichtet wird von Mord und von Folter. Von Frauen und Kindern, die vergewaltigt und versklavt werden. Von Dutzenden abgeschnittenen Köpfen, die als „Abschreckung“ an Zäunen befestigt wurden, darunter offenbar auch jener des Imams der wichtigsten Moschee Yarmouks.

Allianz der Jihadisten

Der IS kontrolliert inzwischen 90 Prozent des Flüchtlingscamps, in dem einst 160.000 Palästinenser gelebt haben. Sie sind seit der Gründung Israels 1948 hierhergeflüchtet und haben seit Ende der 1950er-Jahre ihre eigene Stadt nur wenige Kilometer südlich vom Zentrum von Damaskus errichtet. Das einst quirlige Yarmouk galt in seiner Blütezeit de facto als Hauptstadt der palästinensischen Diaspora.

Bei der Eroberung Yarmouks erhielten die Jihadisten offenbar unerwartete Hilfe ihrer eigentlichen Erzrivalen: Unterstützt wurde der IS von der al-Qaida-nahen al-Nusra-Front. Gemeinsam konnten sie den Großteil der Regimetruppen sowie kleinere Rebellengruppen vertreiben und die Macht im Camp übernehmen. Allerdings lässt die Assad-Regierung Yarmouk weiterhin aus der Luft attackieren. Auch Fassbomben sollen abgeworfen worden sein. Das einzige Krankenhaus in Yarmouk wurde bei den Bombardements schwer beschädigt. Im Camp versucht unterdessen noch eine palästinensische Brigade verzweifelt, die Extremisten zu vertreiben. Laizistische Gruppen schlossen sich in einer ungewöhnlichen Allianz mit der lokalen Vertretung der radikalen Hamas zusammen. Den Palästinensern geht aber die Munition aus.

Bis zum Wochenende war tausenden Zivilisten die Flucht aus der Hölle von Yarmouk gelungen, doch inzwischen kommt niemand mehr aus dem Camp heraus. „IS-Kämpfer bewachen die Ausgänge, sie erschießen jeden, der sich ihnen nähert“, schildert ein Augenzeuge. Auch Helfern wird der Zugang verwehrt. Internationale Appelle – unter anderem des UN-Sicherheitsrats –, Hilfsorganisationen in das Lager zu lassen und Zivilisten die Flucht zu ermöglichen, blieben bisher unerhört. Ganz besonders dramatisch ist die Lage für die etwa 3500 Kinder, die in Yarmouk eingeschlossen sind. „Sie verhungern, verdursten, sind teilweise schwer verletzt und haben keine Medikamente. Sie werden alle sterben, wenn sie nicht bald Hilfe erhalten“, warnt Karl Schembri von Save the Children im Gespräch mit der „Presse“. Mitarbeiter seiner Organisation hätten zuletzt vergeblich versucht, Medikamente in das Lager zu bringen, schildert Schembri, der von Jordanien aus die Hilfe für syrische Flüchtlinge koordiniert. „Sie werden von jeder Seite angegriffen, auch Assad-Truppen schießen auf sie.“ Das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge, UNRWA, spricht von einer Situation, die „über alles menschlich Vorstellbare“ hinausgehe.

Vor den Toren von Damaskus

Die Einwohner von Yarmouk erleben eine Eskalation der Eskalation. Jahrelang sind sie schon der Gewalt des syrischen Bürgerkriegs ausgesetzt: Seit Dezember 2011 – nur wenige Monate nach Beginn des Krieges – wird Yarmouk vom Assad-Regime systematisch bombardiert, da Rebellen Teile des Camps besetzt haben. Mit dem IS-Vordringen erreicht der Horror freilich eine neue Dimension: auch für die Bewohner von Syriens Hauptstadt, von der die Extremisten inzwischen nur noch wenige Kilometer entfernt sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.04.2015)

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