Der stückweise abgeschnittene Schwanz

Verlässliche Prognosen gibt es nicht mehr. Das heißt: Für die Staatsfinanzen hat längst der Blindflug begonnen.

Das renommierte Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat Premiere gefeiert: Erstmals verzichtet es in seiner traditionellen Frühjahrsprognose auf eine konkrete Konjunkturschätzung für das kommende Jahr – wegen der „großen Unsicherheit“. Damit gestehen die Wirtschaftsforscher ein, dass die gegenwärtige Krise so einzigartig ist, dass sie über keine Erfahrungswerte verfügen, an denen sie den weiteren Verlauf auch nur einigermaßen abschätzen könnten. In der Tat: Ein Ökonom müsste heute ungefähr 110 Jahre alt sein, um mit Recht behaupten zu können, einen solchen Wirtschaftseinbruch bereits einmal professionell live beobachtet zu haben.

Die Zurückhaltung der deutschen Professoren ist willkommen, denn sie ist ehrlicher und letzten Endes auch intelligenter als vieles andere, was uns in den vergangenen Wochen und Monaten vorgesetzt wurde. So hatte man schon im Herbst den Eindruck, dass mache österreichische Wirtschaftsforscher entweder den Ernst der Lage nicht sehen wollten oder sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollten, sie würden die Wirtschaft mit Schreckensmeldungen krank reden. Dabei war damals der plötzliche Stopp an Großfinanzierungen und langfristigen Investitionen schon deutlich sichtbar, der in seiner noch nie dagewesenen Schärfe die Prognostiker hätte alarmieren müssen.

So darf man gespannt sein, wie das Doppelbudget für 2009 und 2010 aussehen wird, das der Finanzminister am kommenden Dienstag vorstellen wird. Die Verhandlungen dazu wurden ja vor mehr als sechs Wochen abgeschlossen. Und jetzt fragt man sich, auf welchen Annahmen sie beruhen: Auf der Nullwachstumsprognose zu Beginn des Verhandlungsprozesses? Oder auf den Prognosen von Ende März, die auf 2,2 bis 2,7 Prozent Wirtschaftsschrumpfung lauten? Oder auf den Prognosen, die man derzeit in Fachkreisen für realistisch hält und bei denen ein Vierer vor dem Komma steht? Wenn letztere Annahme gilt, dann steht der Finanzminister vor dem Problem, über den Daumen gepeilt vier Milliarden Euro weniger einzunehmen als ursprünglich erwartet. Die Mehrausgaben wegen höherer Arbeitslosenzahlen usw. noch nicht berücksichtigt.

Insofern ist es wenigstens ehrlich, wenn Josef Pröll gar nicht beschönigt, dass das Budgetdefizit deutlich über die Maastricht-Marke hinaus ansteigen wird. Klar ist das allerdings schon seit Monaten. Und wie er überhaupt Budgetannahmen für 2010 begründen will, wird interessant.

Insgesamt ist es jedenfalls keine gute Politik, schlechte Erwartungen nicht auf einmal und in all ihrer Furchtbarkeit bekanntzugeben, sondern niedrig anzufangen und den Schrecken über Monate hinweg in Steigerungsschritten zu verkünden – egal ob aus Feigheit oder in der Hoffnung, dass sich die Zeiten ja vielleicht noch bessern, bevor man das Schlimmste hat offenbaren müssen. Das gleicht der Hoffnung, einem Hund, dem man den Schwanz abschneiden muss, weniger wehzutun, wenn man ihm erst einmal einen Zentimenter abzwickt und sich dann langsam vorarbeitet.

Politiker, Prognostiker und Publizisten, die ehrlich ihre pessimistischen Erwartungen verkünden, müssen sich anhören, sie würden die Dinge schlechtreden. Aber der andere Weg ist noch schädlicher: Zuerst die Menschen in falscher Sicherheit wiegen und dann durch ständige Nachjustierungen zu vermitteln, dass alles immer schlimmer wird.


Von dieser Informationspolitik kann man auch die Banken nicht ganz freisprechen, die uns zuerst erklärt haben, so gut wie gar nicht von den internationalen Finanzblasen betroffen zu sein, aber dann doch Schritt für Schritt diese Spekulation und jene Island-Pleite zugeben mussten. Und so sind sie mitschuld, wenn hierzulande ein Sager des amerikanischen Star-Ökonomen Paul Krugman für Unruhe sorgen kann (international ist er bis jetzt damit ohnehin nicht wahrgenommen worden): Österreich sei – nach Island und Irland – wegen der Ostkredite der Banken ein Kandidat für einen Staatsbankrott.

Der Vergleich mit Island ist etwas kühn: Die isländischen Großbanken hatten Auslandsforderungen von mehr als dem Siebenfachen des isländischen BIP, die österreichischen Großbanken kommen nur auf 70 Prozent des BIP mit ihren Ostkrediten. Die Isländer waren aufgrund ihrer Hochzinspolitik Anziehungspunkt für internationale Spekulanten, die Österreicher sind im Osten die Geldgeber der kleinen Leute und der Klein- und Mittelbetriebe.

Krugman ist in seiner Analyse also auch keine erfreulich ehrliche Kassandra, sondern einfach nur schlecht informiert. Aber das sind wir in dieser Krise leider alle. Denn die Wahrheit gehört offenbar immer zu den ersten Opfern allgemeiner Aufregung.


michael.prueller@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2009)

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