Sie wurden durch die Straßen getrieben, mit Steinen, Schaufeln, Holzlatten attackiert, mitunter, vor Hunderten Schaulustigen, umgebracht: die Besatzungen abgeschossener alliierter Flugzeuge. 100 Fliegermorde sind allein für das Gebiet des heutigen Österreichs belegt. Vom Ende eines Tabus.
Am 22. März 1945 wurde Wien von einem der letzten schweren amerikanischen Bombenangriffe getroffen. In dichtem Flak-Feuer gerieten fünf Flugzeuge nahezu zeitgleich in Brand und stürzten über dem Stadtgebiet zu Boden. Als die Bomberformationen abgeflogen waren, standen am Himmel über Wien 31 Fallschirme. Josef Schöner, ein Augenzeuge dieser Vorgänge, notierte dazu in sein Tagebuch: „Die Straße ist schon wieder voll von Menschen, die aufgeregt auf drei Fallschirme deuten, die, stark im Winde pendelnd, nach Süden abtreiben. Neben mir sagt einer: ,Grad nach Simmering und Favoriten, dort erschlagen sie sie gleich, wenn sie runterkommen!‘“
Einer jener Flieger war Edward Williams. Er sollte später berichten, dass er von Uniformierten festgenommen wurde, die ihn auf die Straße zerrten. Hier hatte sich eine große Menschenmenge versammelt, die Williams sofort mit Holzlatten, Steinen und Schaufeln attackierte. An allen Stellen, an denen nun weitere „Notabspringer“ zu Boden kamen – sei es vor der Volksoper oder unweit des Schwedenplatzes – wiederholten sich derartige Szenen. Den Fliegern wurden Stricke um den Hals gelegt, sie mussten sich entkleiden und wurden durch die Straßen getrieben. Ernest Alden und Alfred Maas, beide 24 Jahre alt, verloren dabei ihr Leben.
Dieser Fall wirft ein Schlaglicht auf ein spezifisches Verbrechensphänomen: die öffentliche Misshandlung und Ermordung abgeschossener alliierter Flugzeugbesatzungen im Bombenkrieg. Diese Form der Gewalt wird vielfach als Rache einer „Bevölkerung“, die die Schrecken des Bombenkriegs unmittelbar erlebt und erlitten hatte, angesehen. An jenem 22. März 1945 war diese Unmittelbarkeit auch durchaus gegeben – denn nur zehn Tage zuvor war die Innenstadt von Wien schwer getroffen worden. Dabei war nicht nur die Staatsoper in Flammen aufgegangen, sondern auch der Philipphof. Mehr als 200 Menschen waren in den darunterliegenden Luftschutzkellern ums Leben gekommen.
Die traumatischen Erfahrungen des Bombenkrieges wurden bereits während des Krieges symbolisch aufgeladen. Die NS-Propaganda benützte den Bombenkrieg, um ein homogenes Opferkollektiv zu konstruieren, das ganz im Sinn der nationalsozialistischen Kriegsführung denken und handeln sollte. Im Frühjahr 1945 wusste jede und jeder, was unter den Schlagworten „Bombenterror“ und „Terrorflieger“ zu verstehen war.
Diese Vorstellungen und Bilder wurden nahezu ungebrochen in die Nachkriegszeit übernommen und sind auch heute noch spürbar vorhanden. Sie schufen ein gesellschaftliches Opfernarrativ, an dem die Wissenschaft in erheblichem Ausmaß mitschrieb. Andere Betrachtungen des Bombenkrieges wurden lange Zeit abgelehnt, schienen diese doch dem Leid der Zivilbevölkerung nicht ausreichend Rechnung zu tragen. Dies überlagert wichtige Fragestellungen und führte etwa dazu, dass Fliegermorde gewissermaßen als Resultat dieses Leids tabuisiert wurden und gänzlich in Vergessenheit gerieten. Schlimmer noch: Die Vorstellung, dass die Lynchmorde an alliierten Flugzeugbesatzungen spontane Rachehandlungen seien, die sich zu einem Gutteil aus den Behauptungen der NS-Propaganda speiste, wurde nie in Frage gestellt, sondern als gegeben angenommen, gerade weil sie so plausibel klang.
„Ventil für Wut und Zorn“
Dabei wurde geflissentlich übersehen, dass der NS-Staat den „Bombenterror“, der ganze Großstädte in Schutt und Asche legte, durchaus für seine Interessen nutzte. Vor allem Joseph Goebbels erkannte darin die Möglichkeit, die Bevölkerung unmittelbar in die Kriegsführung zu integrieren und sie gerade über Maßnahmen des Luftschutzes und der Opferhilfe großflächig zu erfassen, zu kontrollieren und bis in die Luftschutzkeller hinein zu überwachen. Schutz und Hilfe wurden bewusst nicht jeder und jedem zuteil, sondern waren an Zuschreibungen und regimekonformes Verhalten geknüpft. So wurde etwa Juden oder Zwangsarbeitern der Zutritt zu Luftschutzkellern grundsätzlich verboten. Personen, die sich kritisch äußerten oder etwa Gerüchte verbreiteten, wurden mit dem Entzug der „Gemeinschaftsrechte“ bestraft. Zahlreiche zeitgenössische Luftschutzprotokolle belegen dabei auf schaurige Art und Weise die gesellschaftliche Teilhabe daran. So wurden offen Forderungen erhoben, einzelnen Personen den Zutritt zu Luftschutzkellern zu verwehren, da sie – so der Wortlaut – „der Volksgemeinschaft nicht nützlich seien“ oder „die Gemeinschaft durch Nörgelei stören“.
Dieser spezifisch nationalsozialistische Zugang zum Bombenkrieg verband sich ab 1943 auch mit der Forcierung eines „Volkskrieges“, in den die Bevölkerung aktiv eingebunden werden sollte. Der Bombenkrieg wurde dabei als „Verbrechen am deutschen Volk“ und die alliierten Flugzeugbesatzungen konsequenterweise als „Verbrecher“ dargestellt. Keine negativen Zuschreibungen wurden dabei ausgelassen. So warfen die „Terrorflieger“ angeblich „vergiftete Schokolade“ ab oder führten „versteckte Waffen mit sich“, die im Falle einer „Gefangennahme abgefeuert“ würden. Die Absicht all dieser Darstellungen war deutlich: Die Bevölkerung sollte dazu gebracht werden, an Flugzeugbesatzungen Rache zu üben. Diese Gewaltakte sollten – wie es Joseph Goebbels formulierte – als „Ventil für Wut und Zorn“ genutzt werden.
Noch bevor es überhaupt zu ersten Übergriffen und Gewalttaten kam, hatte die NS-Propaganda bereits eine Schlagwort bei der Hand: „Fliegerlynchjustiz“. Ende Mai 1944 wurde am Obersalzberg sogar der Beschluss gefasst, dass diese von nun an „als Regel zu gelten habe“. Goebbels notierte dazu am 30. Mai 1944 zufrieden in sein Tagebuch: „Es wird sicherlich sehr bald das große Pilotenjagen einsetzen.“
Das NS-Regime konstruierte also nicht nur spezifische Feindbilder und verstärkte Wahrnehmungen, sondern gab Gewalt gegen alliierte Soldaten gewissermaßen frei. Wichtig ist, dass diese jedoch nie legalisiert, das bestehende Recht nicht aufgehoben wurde. Es wurde nur mit Nachdruck vermittelt, dass derartige Übergriffe im Sinne des NS-Staates seien und zudem strafrechtlich nicht verfolgt würden. Tatsächlich kam es erst nach dieser Beschlussfassung – mit Juni 1944 – zu einer regelrechten Explosion der „Lynchjustiz“, und zwar zeitgleich im gesamten Deutschen Reich und damit auch im heutigen Österreich.
Dass derartige Gewaltangebote gerade zu Kriegsende angenommen wurden, belegt nicht nur der bereits geschilderte Fliegermord von Wien. Wesentlich häufiger formte sich Gewalt abseits der Bombardierungsgebiete aus. Hier nahmen die handelnden Personen an „Terrorfliegern“ nicht deshalb Rache, weil sie Bombenangriffe unmittelbar erlebt hatten, sondern aufgrund des propagandistisch aufgebauten Bildes des Bombenkrieges und seiner Protagonisten. Im burgenländischen Schützen am Gebirge erschossen 17-jährige Reichsarbeitsdienstmänner zwischen 13. und 14. Februar 1945 insgesamt fünf US-Flieger. Dieser Mord geschah nicht bei der Gefangennahme. Vielmehr waren die Flieger vorher in ein Lager gebracht, später abgeholt und dann auf offener Straße förmlich hingerichtet worden. In Graz-Straßgang wurden am 4. März 1945 vier Amerikaner vor Hunderten Schaulustigen von einem ortsansässigen Waffen-SS-Mann und einem Wehrmachtsangehörigen öffentlich ermordet. Die Leichname wurden anschließend zur Schau gestellt, eine von der NSDAP-Ortsgruppe organisierte Siegesfeier wurde abgehalten. Auch in Bleiburg, Spittal an der Drau, Hieflau, Mürzsteg oder Lamprechtshausen kam es zu derartigen Morden – um nur einige wenige Schauplätze aufzuzählen, die allesamt vom Bombenkrieg nicht unmittelbar betroffen waren.
Zu einem besonderen Zentrum der „Fliegerlynchjustiz“ entwickelte sich das Umland von Linz. Hier hatte der Gauleiter von Oberdonau, August Eigruber, bereits im Februar 1944 eine entsprechende Lynchjustizweisung ausgegeben. Als es am 25. April 1945 im Rahmen des letzten schweren Bombenangriffs auf eine österreichische Stadt zum Abschuss von sieben US-Flugzeugen rund um Linz kam, eskalierte die Gewalt allerorts. Es kam zu regelrechten Treibjagden auf „Terrorflieger“, an denen sich Hunderte Personen beteiligten. Wurden diese nicht sofort erschossen, legte man ihnen Stricke um den Hals und zog sie hinter einem Pferdewagen durch die Dörfer. Fünf Flieger wurden dabei nachweislich ermordet – von drei weiteren fehlt bis zum heutigen Tage jede Spur.
Insgesamt 1000 Fliegermorde
Die Überlebenden wurden in das KZ Mauthausen verschleppt, wo sie weitere Misshandlungen über sich ergehen lassen und die Schändung der Leichname der Ermordeten mitansehen mussten. Sie überlebten wohl nur deshalb, weil die SS-Wachmannschaften wenige Tage darauf das KZ verließen.
Gerade am Beispiel Linz zeigt sich deutlich, dass die Umsetzung der Fliegermorde nicht nur von der Bevölkerung ausging, sondern sich in Verschränkung mit unmittelbar gesetzten Maßnahmen seitens einzelner NS-Funktionäre manifestierte. Die „Fliegerlynchjustiz“ hatte bis zuletzt die Funktion der Machtdemonstration innerhalb der nationalsozialistischen Herrschaft „unter Bomben“.
Insgesamt fielen der „Fliegerlynchjustiz“ in Österreich rund 100 US-Flieger zum Opfer – etwa 600 sollten später von Übergriffen und Misshandlungen berichten. Rund 200 „Airmen“ gelten noch heute als vermisst. Im gesamten Deutschen Reich muss von etwa 1000 Ermordeten ausgegangen werden.
In der heutigen Erinnerung ist das Gewaltphänomen der „Fliegerlynchjustiz“ kaum mehr präsent und, wenn vorhanden, dann in erheblichem Ausmaß tabuisiert. Dieser Umstand zeigt sich deutlich in Form fehlender Erinnerungszeichen und Gedenkinitiativen. So besteht lediglich in Graz-Wetzelsdorf ein Gedenkstein, der an ermordete Flieger erinnert. Alle anderen Verbrechensfälle gerieten in Vergessenheit. Wenn sie dennoch zu Sprache kommen, so werden sie mit Opferaufrechnungen und dem Hinweis darauf, dass wohl zuvorderst der Toten des Bombenkrieges gedacht werden müsse, wieder in die Erinnerungslosigkeit verbannt. All das zeigt, wie problematisch der Zugang zum Bombenkrieg im Allgemeinen und zur „Fliegerlynchjustiz“ im Speziellen auch heute, 70 Jahre nach Ende des Krieges, noch ist. ■
("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2015)