USA: Die Schüsse auf Lincoln hallen bis heute nach

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Wider Image: Memories of Lincoln(c) REUTERS (HANDOUT)
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150 Jahre nach der Ermordung ihres 16. Präsidenten ringen die USA mit einigen damals ungelösten Problemen – von der feindseligen politischen Spaltung bis hin zum versäumten Aufbau des Südens.

Wie wäre die Geschichte der Vereinigten Staaten verlaufen, hätte Abraham Lincoln am 14. April 1865 an der Flaggenzeremonie in Fort Sumter in der Bucht von Charleston teilgenommen, wie es zeitweilig angedacht war, statt in Washington ins Theater zu gehen? Der fanatische Rassist John Wilkes Booth hätte ihm dann nicht in den Kopf schießen können. Lincoln wäre nicht am 15. April, frühmorgens um 7.22 Uhr, gestorben. Sein intellektuell und ethisch überforderter Vizepräsident Andrew Johnson hätte nicht die Präsidentschaft übernommen. Johnson hätte nicht eine Reihe fataler Kompromisse mit der politischen Elite der Südstaaten schließen können, die den politischen und wirtschaftlichen Aufstieg der mehr als drei Millionen früheren Sklaven beendet haben (der letzte gewählte Schwarze flog 1901 aus dem Kongress; erst 1928 wurde wieder einer gewählt). Der Riss, der bis heute durch die amerikanische Gesellschaft verläuft, wäre vielleicht nicht so tief, hätte Lincoln überlebt.

Die hypothetische Geschichtsforschung ist das eine, die reale Gegenwart das andere. Der Bürgerkrieg und der erste Mord an einem US-Präsidenten bestimmen das Selbstverständnis der amerikanischen Gesellschaft heute noch immer stärker, als man es vermuten mag. Norden und Süden, Stadt und Land, Weiße und Schwarze folgen in ihrem Verhältnis zueinander heute noch oft Bahnen, die vor eineinhalb Jahrhunderten gezogen wurden.

Die Verachtung der Regierung

Am klarsten zeigt sich das an der Feindschaft der beiden Parteien. Die Republikaner und die Demokraten haben zwar seit 1865 ihre Weltanschauungen getauscht; Lincoln wäre heute gewiss kein Mann der „Grand Old Party“ mehr. Dieser Rollentausch war spätestens im Jahr 1964 mit Lyndon B. Johnsons Unterzeichnung des Civil Rights Acts vollzogen. „Wir haben hiermit den Süden für mindestens eine Generation verloren“, sagte Johnson. Der Civil Rights Act, der die im Bürgerkrieg erfochtenen Grundrechte für die schwarzen Bürger mit 100 Jahren Verspätung durchsetzen sollte, ließ konservative Demokraten scharenweise in die vom rechtsdemagogischen Senator Barry Goldwater gewendete republikanische Partei überlaufen. Goldwater verlor zwar die Präsidentschaftswahl 1964 gegen Johnson. Doch er hatte im Süden den Acker für eine konservative Revolution bereitet, auf dem Richard Nixon vier Jahre später die Ernte einfahren sollte.

Diese neue republikanische Partei ist seither auf jene Weise zu einer Bewegung des weißen, ländlichen Südens geworden, wie es die Demokraten Mitte des 19. Jahrhunderts waren. Die Ablehnung von Bevormundung aus dem urbanen Norden schmiedet heute wie damals eiserne konservative Mehrheiten südlich der Mason-Dixon-Linie; bei den Kongresswahlen im vergangenen November verlor Mary Landrieu, die letzte Demokratin aus dem tiefen Süden, ihren Sitz im Senat.

Die beiden Parteien sind, mit vertauschten Ideologien, heute so verfeindet wie zuletzt 1860. Damals stimmten Demokraten und Republikaner so selten überein wie heute, hat James Thurber von der American University in Washington anhand der Analyse von 1,8 Millionen Abstimmungen in Senat und Abgeordnetenhaus seit Gründung der USA herausgefunden.

Die Ablehnung zentralstaatlicher Politiken wird heute ebenso in einen verfassungsmäßigen Literalismus gekleidet, wie die Südstaatenparlamente ihre Abspaltung von den USA rechtfertigten. Zum Beispiel beklagte die Sezessionserklärung von South Carolina (das sich als Erstes lossagte) am 20. Dezember 1860 die „Übergriffe auf die gesicherten Rechte der Staaten“ durch die Bundesregierung. In eine ähnlich klingende Verteidigung der konstitutionellen Selbstbestimmung der Gliedstaaten kleiden Republikaner heute ihre Ablehnung der Krankenversicherungspflicht, die Präsident Obama im Jahr 2010 einzig mit den Stimmen der damaligen demokratischen Mehrheit durch den Kongress gebracht hatte.

Er suchte den Ausgleich

Die Kritiker des Wasserkopfes Washington, der den rechtschaffenen Bürgern ins Leben hineinpfuscht, verschweigen allerdings, dass der Süden überdurchschnittlich stark von Subventionen aus dem Bundesbudget profitiert. 67 Prozent aller Familien in Texas, wo noch im Mai 1865 konföderierte Truppen sich dem Kriegsende widersetzten, empfangen heute Lebensmittelmarken, subventionierte Krankenversicherung und andere Staatshilfen, hat eine am Montag veröffentlichte Studie der University of California, Berkeley ergeben.

Gewiss: All diese Probleme hätte Lincoln nicht allein bewältigen können. Seine heutige Bewunderung ist auch dem Umstand geschuldet, dass er sich mit den Mühen der „Reconstruction“ nach 1865 nicht auseinandersetzen konnte. Doch dieser intellektuell neugierige, charakterstarke Jurist aus Illinois wusste, dass er gegen den Willen der Einzelstaaten Amerika nicht mit sich selbst versöhnen konnte. Noch Anfang 1865 hatte er an die Bürger von Missouri appelliert, ihren blutigen Bruderkrieg zwischen Anhängern und Gegnern der Sklaverei auf friedliche Weise und frei von Rache beizulegen. Südstaaten, die sich zur Abschaffung der Sklaverei verpflichteten und in denen mindestens zehn Prozent der Wähler einen Treueeid auf die Verfassung schworen, sollten seiner Vorstellung nach eigene neue Regierungen wählen dürfen.

Lincoln war, entgegen seiner heute im Süden der USA weit verbreiteten Karikatur, kein rachsüchtiger Yankee. Er suchte den Ausgleich – und fand den Tod.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.04.2015)

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