NS-Prozess: Der reuige Geldzähler von Auschwitz

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Oskar Gröning kam mit 21 nach Auschwitz, wo er Wertsachen der Häftlinge registrierte. Der Ex-KZ-Aufseher steht nun 93-jährig in Lüneburg vor Gericht - und legte ein Geständnis ab.

Lüneburg. Als ein Kollege aus seinem Briefmarkenklub Oskar Gröning vor zwanzig Jahren ein Buch über die Auschwitz-Lüge gab, schickte Gröning es zurück und schrieb dazu: Es sei alles wahr, das mit den Vergasungen, Verbrennungen – er habe alles selbst erlebt.

Gestern hat sich der 93-Jährige gleich bei Prozessbeginn im norddeutschen Lüneburg als „zweifellos moralisch mitschuldig“ bekannt. Er bereue sein Handeln in Demut vor den Opfern, sagte er vor Gericht. Dem gebürtigen Niedersachsen drohen wegen Beihilfe zum Mord an 300.000 Menschen mindestens drei Jahre Haft.

Gegen die Holocaust-Leugner

Um Vergebung gebeten – das hat Gröning schon früher getan. In den Achtzigerjahren schrieb er in ein Heft nieder, was er erlebt hatte, ließ es binden und schenkte es seinen Söhnen. Der BBC gab er freimütige Interviews, widersprach den Holocaust-Leugnern. Das Bemühen um Aufklärung – ein Versuch tätiger Reue? Auf die Frage nach seiner Schuld sagte Gröning vor zehn Jahren, er werde „mit der Antwort nicht fertig ...“ Er rang darum, auch um mildernde Umstände, um „Vergebung“ vor „dem Herrgott“: Täter sei er nicht, fand er, „ungewollt schuldig“ schon; juristisch schuldig sei er nicht, doch im christlichen Sinn sei er es wohl.

Die Schuldfrage mag schwierig sein, die Geschichte des 93-Jährigen ist einfach – auch weil Gröning anders als viele nie versuchte, etwas zu verschweigen oder die Fakten zu verdrehen. Das begeisterte 21-jährige SS-Mitglied wird 1942 für einen angeblich besonders ehrenvollen Sonderauftrag ausgewählt. In Auschwitz erfährt der gelernte Sparkassenbeamte – wie er später erzählt – rasch von den Vergasungen. Er bleibt zwei Jahre in Auschwitz, bittet dreimal um Versetzung, am Ende erfolgreich.

Bis dahin zählt er das Geld im zurückgelassenen Gepäck der Häftlinge und leitet es an die SS weiter. Er registriert Wertsachen, passt auf, dass auf den Bahnsteigen kein Gepäck der Neuankömmlinge verschwindet. Er leidet, ein Ereignis prägt sich ihm besonders ein: als ein SS-Mann ein allein liegendes Baby an den Beinen packt und gegen die Eisenstangen eines Lkw schleudert, weil ihn das Geschrei stört. Gegen solche Exzesse habe er protestiert, doch er habe an die Notwendigkeit der Vernichtung der Juden geglaubt, erzählte Gröning in einem „Spiegel“-Interview vor zehn Jahren. „Wenn Sie überzeugt sind, dass die Vernichtung des Judentums nötig ist, dann spielt es keine Rolle mehr, ob das Töten so oder so passiert. Ich bin eingespannt in das Notwendige, das fürchterlich ist. Aber notwendig.“

KZ-Prozesse: die Wende 2011

Damals gab es noch nicht das Urteil gegen John Demjanjuk, einen ehemaligen Aufseher im Vernichtungslager Sobibor. 2011 wurde der Ukrainer in Deutschland zu fünf Jahren Haft verurteilt, obwohl ihm keine unmittelbare Beteiligung an einem konkreten Mord nachgewiesen wurde – allein die Tätigkeit als KZ-Aufseher reichte aus.

Diese Bewertung war ein rechtliches Novum, wenn man ihr schon in früheren Jahrzehnten gefolgt wäre, hätte man tausende verurteilen können; auch Oskar Gröning wäre dann nicht erst mit 93 Jahren vor Gericht gelandet.

Doch bis 2011 beharrte die Justiz bei KZ-Aufsehern auf einer direkten Beteiligung an den Morden. Und so wurden Ermittlungen gegen Gröning 1985 wieder eingestellt. „Noch 2005 wurde das Verfahren mit der Begründung nicht wieder aufgenommen, dass SS-Wachmannschaften an der Rampe für die Ermordung hunderttausender Juden überflüssig waren“, kritisierte Nebenkläger Anwalt Cornelius Nestler in Lüneburg.

Viele Urteile dieser Art können nicht mehr folgen, Gröning gehört zu den letzten Überlebenden von damals. Umso größer ist das internationale Interesse am Prozess; Dolmetscher übersetzen ins Englische, Hebräische, Ungarische.

Von 62 Nebenklägern sind viele Holocaust-Überlebende oder deren Angehörige. Es gehe ihnen nicht um die Strafe, sondern um Gerechtigkeit, betonen sie. Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz Komitee, einem Zusammenschluss von Auschwitz-Überlebenden und ihren Organisationen, sagt: „Sie haben auf die Gelegenheit, Zeuge in einem deutschen Gerichtssaal zu sein, lange, lange gewartet.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.04.2015)

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