Historiker beschreiben die planmäßige Enteignung der Armenier durch das Osmanische Reich. Regierungssprecher Arinc: „Kein absichtlicher Völkermord.“
Istanbul. Kurz vor dem Armenier-Jahrestag am 24. April versucht die Türkei, den Rufen nach Anerkennung des Völkermordes den Wind aus den Segeln zu nehmen: Premier Ahmet Davutoğlu erinnerte ausdrücklich an das Leid der Armenier, warnte aber vor einer einseitigen Verurteilung der Türkei. Mit Spannung sieht Ankara der Rede des deutschen Präsidenten, Joachim Gauck, entgegen. Auch in der Türkei wachsen Zweifel an der offiziellen Version der Ereignisse von 1915.
Davutoğlu betonte, es sei rechtlich und moralisch problematisch, die gesamte Schuld der türkischen Nation aufzubürden und alles auf ein Wort zu reduzieren. Der Premier verwies zudem auf eine Gedenkzeremonie im armenischen Patriarchat in Istanbul am 24. April, dem 100. Jahrestag des Beginns der Massendeportationen der Armenier durch das Osmanische Reich.
Regierungssprecher Bülent Arinc sagte, 1915 habe es zwar eine „Tragödie“ gegeben, doch die Türken hätten „nicht wissentlich, vorsätzlich und absichtlich einen Völkermord begangen“. Die Welt wisse sehr genau, wer Völkermorde begangen habe, fügte Arinc hinzu.
Massaker Teil eines Planes
Auch in der Türkei vertritt eine Reihe von Historikern die Auffassung, dass die Massaker an den Armeniern sehr wohl Teil eines staatlich sanktionierten Planes waren. Detailliert schildert Mehmet Polatel, wie der Besitz der Armenier ab 1915 planmäßig enteignet und verteilt wurde. Versorgt wurden damit zunächst muslimische Flüchtlinge vom Balkan und dem Kaukasus sowie die osmanische Staatskasse. Ein Teil des erbeuteten Reichtums wurde gezielt muslimischen Unternehmern zur Verfügung gestellt, um eine türkifizierte, nationale Wirtschaft zu schaffen. Die „systematische Kontrolle“ des Staates über die Enteignung der Armenier belege, dass es sich bei ihrer Deportation keineswegs um ein vorübergehende Umsiedlung gehandelt habe.
Auch der Historiker Ugur Ümit Üngör, der die Türkifizierung von Anatolien erforscht, betont die wirtschaftliche Bedeutung. Die heute so erfolgreiche türkische Volkswirtschaft sei auf dem enteigneten Besitz der Armenier aufgebaut, sagt Üngör: „Das ist die Grundlage der türkischen Wirtschaft. Die Enteignung der Armenier war eine der größten Umverteilungen von Eigentum in der neueren Geschichte.“
Der junge Politikwissenschaftler Ümit Kurt weist auf die Parallelen zum deutschen Nationalsozialismus hin: „Man kann einen ganz klaren Vergleich ziehen zwischen der Arisierung jüdischen Eigentums durch das Nazi-Regime und der Türkifizierung und Enteignung armenischen Besitzes. Es gibt beträchtliche Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten zwischen den beiden Prozessen.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.04.2015)