"Sie schlugen uns, um möglichst viele an Bord zu bringen"

Überlebende der bislang schlimmsten Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer.
Überlebende der bislang schlimmsten Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer.(c) APA/EPA/ALESSANDRO DI MEO (ALESSANDRO DI MEO)
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Überlebende des tödlichsten Flüchtlingsunglücks im Mittelmeer schildern immer mehr Details die Vorgänge an Bord betreffend. Die EU-Kommission erwägt einen Militäreinsatz an Libyens Küste.

Der tunesische Kapitän des am Sonntag in libyschen Gewässern gekenterten Flüchtlingsboots war betrunken und rauchte Haschisch seit der Abfahrt in Libyen. Das berichteten Überlebende des bisher tödlichsten Flüchtlingsunglücks im Mittelmeer mit rund 850 Opfern. Beim EU-Sondergipfel zu den Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer sollen Pläne zur Zerstörung von Menschenschmuggler-Schiffen eines der Topthemen werden. 

Wegen des Zustands des Kapitäns sei es zu einem falschen Manöver und zur Kollision des Flüchtlingsbootes mit einem portugiesischen Handelsschiff gekommen, das dem Notruf der Flüchtlinge gefolgt war. An Bord des Bootes sei Panik ausgebrochen, das hoffnungslos überlastete Boot kippte um, berichteten die Zeugen. Der 27-jährige Kapitän und ein syrisches Besatzungsmitglied wurden in der Nacht auf Dienstag festgenommen, als die Gruppe von 27 Überlebenden der Tragödie in Catania auf Sizilien an Land gehen konnte.

EU-Sondergipfel könnte Militäreinsatz ermöglichen

"Die Europäische Union hat nicht die Kompetenz, über Militäreinsätze zu entscheiden", sagte eine Sprecherin am Dienstag in Brüssel. Deswegen müsse es dazu am Donnerstag einen Beschluss der Staats- und Regierungschefs geben.

Ziel einer solchen Einsatzes soll es sein, Schlepperbanden die Ausübung ihres Geschäfts zu erschweren. Über Details könne man aber derzeit noch keine Angaben nennen, sagte die Sprecherin. Dazu gehöre neben der Mandatsproblematik auch die Frage, ob die Schiffe auf See oder an Land zerstört werden sollten.

Nach Angaben der EU-Kommission haben an der Küste Libyens operierende Menschenschmuggler bereits jetzt nicht genügend Schiffe, um die zu Tausenden ankommenden Flüchtlinge schnell wegzubringen. Eine Zerstörungsaktion könnte verhindern, dass noch mehr Menschen eine lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer in Richtung Europa wagen.

Als Vorbild für eine mögliche Militäroperation hatte die EU-Kommission bereits am Montag den erfolgreichen Anti-Piraterie-Einsatz Atalanta am Horn von Afrika genannt. Dieser schützt vor allem zivile Schiffe vor der Küste Somalias. Erlaubt sind aber auch Militäreinsätze gegen an Stränden gelegene Piratenlager.

Angeklagte: Erste Anhörung am Freitag

Dem tunesischen Kapitän des Flüchtlingsbootes wird vielfacher Totschlag, Verursachen eines Schiffsuntergangs und Beihilfe zur illegalen Einwanderung vorgeworfen. Gegen den 25-jährigen Syrer wird wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung ermittelt. Die beiden Männer müssen am Freitag zu einer ersten Anhörung vor Gericht erscheinen. Dem Kapitän des portugiesischen Handelsschiffes sei dagegen nichts vorzuwerfen, berichteten die sizilianischen Ermittler.

Laut Überlebenden wollten Schlepperbanden 1200 Menschen an Bord des Flüchtlingsbootes unterbringen. "Sie schlugen uns, um so viel Menschen wie möglich ins Boot zu bringen. Am Schluss waren wir 800 an Bord. Die meisten waren im Lagerraum eingeschlossen. Nach der Kollision bin ich ins Wasser gefallen, wo ich eine halbe Stunde lang warten musste, bis man mir ein Seil zugeworfen hat", berichtete der 16-jährige Somalier Said, der sich mit weiteren drei Minderjährigen retten konnte.

Flüchtlinge zahlten bis zu 1400 Euro für Fahrt

Die Überlebenden erzählen, dass das Flüchtlingsboot am Samstag von einem Hafen nahe Tripolis abgefahren war. Die Migranten wurden ein Monat lang in einem Bauernhof gefangen gehalten, bevor sie abfahren durften. Bis zu 1500 Dollar (1401,87 Euro) pro Person musste sie für die Reise nach Italien zahlen.

"Wir wurden geschlagen und bekamen kaum zu Essen. Wer erkrankte, wurde sich selbst überlassen. Ich habe viele Personen sterben sehen", berichtete der junge Somalier, der neun Monate lang in Tripolis ausharren musste, bevor er die Reise nach Italien unternehmen konnte. Sein Ziel sei es jetzt, nach Norwegen weiterzureisen.

Nationalrat: Vager Koalitionsantrag in Sachen Asyl

Die Forderung der Grünen, sofort die Flüchtlingsrettungsaktion "Mare Nostrum" wieder zu beleben, wird vom Nationalrat nicht unterstützt. Ein entsprechenden Entschließungsantrag fand Mittwochnachmittag nur Unterstützung der NEOS. Angenommen wurde ein eher vager Antrag der Koalitionsparteien.

In diesem fordern SPÖ und ÖVP (unterstützt von den NEOS) die Regierung auf, "die Ausweitung und Verbesserung von europäisch koordinierten Such- und Seenotrettungsprogrammen im Mittelmeer aktiv zu unterstützen sowie weitere geeignete Maßnahmen zu setzen, um den weiteren Verlust von Menschenleben im Mittelmeer zu verhindern".

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(APA)

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