Flüchtlinge: „Könnten es bald nicht mehr alleine schaffen“

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Beim EU-Sondergipfel hoffen besonders Länder wie Italien auf rasche Maßnahmen. Der Kapitän des Unglücksschiffs war betrunken und rauchte Haschisch.

Wien/Rom/Brüssel. Paolo Gentiloni will keine offene Drohung aussprechen, jedenfalls nicht so kurz vor Beginn des EU-Sondergipfels am heutigen Donnerstag: Immerhin sollen die Staats- und Regierungschefs dort gemeinsame Lösungsansätze zur Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer erörtern – und Rom will die Chance auf eine solidarische Mithilfe seiner EU-Partner bei der Aufnahme zigtausender Boatpeople nicht vorzeitig vergeben. Der Außenminister beschränkt sich deshalb auf eine einfache, wenn auch deutliche Feststellung: „Italien könnte es bald nicht mehr allein schaffen.“

Dass Rom sich mit der gewaltigen Flüchtlingswelle aus Nordafrika alleingelassen fühlt, ist kein Geheimnis. Für nordeuropäische Staaten steht hingegen fest: Die italienischen Behörden lassen einen erheblichen Teil der Migranten einfach weiterziehen, obwohl dies einem klaren Bruch des Dublin-II-Abkommens gleichkommt. Demnach muss ein Flüchtling bekanntermaßen in jenem Land Asyl beantragen, in dem er zuerst europäischen Boden betreten hat.

Wie verhärtet die Fronten mittlerweile sind, zeigt sich am Beispiel der massiven Kritik von Italiens Polizeigewerkschaft SIULP wegen angeblich zu strenger Flüchtlingskontrollen am Brenner-Übergang. Trilaterale Streifen italienischer, österreichischer und deutscher Wachebeamter würden täglich Flüchtlinge ohne gültige Reisepapiere in Zügen bei Bozen und Sterzing aufhalten – was die italienische Polizei stark belaste. Das heimische Innenministerium kann den Vorwurf nicht nachvollziehen: „Österreichs Polizei erfüllt im Rahmen des Schengener Grenzkodex nur ihre Aufgabe“, meint Sprecher Karl-Heinz Grundböck im Gespräch mit der „Presse“.

Kampf gegen Schlepper

Länder wie Österreich und Deutschland fordern wegen steigender Asylwerberzahlen schon lange einen gerechten Verteilungsschlüssel der Flüchtlinge auf alle 28 EU-Mitgliedstaaten. Das Thema soll auch beim heutigen Sondergipfel diskutiert werden, den Ratspräsident Donald Tusk nach der Flüchtlingskatastrophe mit 800 Toten am vergangenen Wochenende einberufen hat.

Die Staats- und Regierungschefs beraten außerdem über ein Zehn-Punkte-Papier der EU-Kommission, das die Außen- und Innenminister am vergangenen Montag verabschiedet haben. Es sieht unter anderem eine Verdoppelung der Mittel für die Frontex-Missionen Triton und Poseidon vor, die den Fokus künftig nicht allein auf den Grenzschutz, sondern auch die Rettung in Seenot geratener Migranten legen sollen. Seit die italienische Operation Mare Nostrum mit Ende Oktober des Vorjahres eingestellt wurde, gibt es keine vergleichbare Rettungsaktion mehr.

Ein weiterer Schwerpunkt in Brüssel wird der Kampf gegen Menschenschmuggler sein: Die Kommission erwartet vom Gipfel grünes Licht zur gezielten Zerstörung leerer Schlepperschiffe – ein Vorhaben, das bei Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen für Kopfschütteln sorgt. „Zerstörte Schlepperboote“, fürchtet Caritas-Präsident Michael Landau, „werden nur durch wackligere Boote und Schlauchboote ersetzt.“ Die Kommission räumte ein, über Details ihres Plans noch keine Angaben machen zu können. Neben der Mandatsproblematik stelle sich auch die Frage, ob die Schiffe auf See oder an Land zerstört werden sollen, erklärte eine Sprecherin.

Der Druck auf die EU-Staaten, endlich gemeinsame Maßnahmen gegen die Flüchtlingsproblematik zu setzen, wächst umso mehr, seit Details des Unfallhergangs bei der bisher schlimmsten Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer bekannt wurden: Der tunesische Kapitän des Flüchtlingsschiffs ist offenbar unter Alkoholeinfluss gestanden, seit der Abfahrt in Libyen soll er zudem Haschisch geraucht haben. Sein Zustand führte nach Aussagen Überlebender zu der Kollision mit einem portugiesischen Handelsschiff, das den Flüchtlingen helfen wollte. Als Folge des Zusammenpralls sei Panik an Bord des schwer beladenen Migrantenschiffs ausgebrochen – dann kippte es um, berichten Überlebende. Dem Kapitän des Flüchtlingsschiffs werden vielfacher Totschlag, Verursachen eines Schiffsuntergangs und Beihilfe zur illegalen Einwanderung vorgeworfen. Der 27-Jährige sowie ein syrischer Steuermann wurden in der Nacht auf Dienstag festgenommen. Gegen den 25-jährigen Syrer wird wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung ermittelt. Die beiden Männer müssen am Freitag zur ersten Anhörung vor Gericht.

Laut Zeugenaussagen hatte das Flüchtlingsboot am Samstag von einem Hafen nahe der libyschen Hauptstadt Tripolis abgelegt. Zuvor wurden die Migranten einen Monat lang in einem Bauernhof gefangen gehalten. „Wir wurden geschlagen und bekamen kaum zu essen. Wer erkrankte, wurde sich selbst überlassen. Ich habe viele Personen sterben sehen“, berichtet ein junger Somalier. Etwa 1400 Euro mussten die Flüchtlinge für die Überfahrt nach Italien an die Schlepper bezahlen. Diese wollten offenbar 1200 Menschen auf das Schiff pferchen. „Sie schlugen uns, um so viele Menschen wie möglich ins Boot zu bringen. Am Schluss waren wir 800an Bord. Die meisten waren im Lagerraum eingeschlossen“ – sie hatten keine Chance zu überleben.

Todesgefahr hat sich verdoppelt

Bereits 21.000 Menschen haben seit Jahresbeginn die Küsten Europas erreicht, heißt es in einem aktuellen Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI). Parallel steigen die Todesfälle dramatisch an. Während der Operation Mare Nostrum überlebte im Durchschnitt einer von 50Menschen die Überfahrt nach Europa nicht, in den ersten drei Monaten 2015 war es bereits einer von 23. AI spricht von der „gefährlichsten und tödlichsten Route der Welt“– nur „eine effiziente Rettungsaktion à la Mare Nostrum“ könne das Massensterben im Mittelmeer beenden.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.04.2015)

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