„Wenn die Historiker Urteil fällen, werden wir uns entschuldigen“

TURKEY ARMENIAN AKHTAMAR CHURCH
TURKEY ARMENIAN AKHTAMAR CHURCH(c) EPA (Tolga Bozoglu)
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Lang wollte die Türkei nichts vom dunklen Kapitel wissen. Erdoğan für unabhängigen Historikerkommission zur Völkermord-Frage.

Istanbul. Auf dem Gehsteig der Einkaufsstraße Halâskârgazi Caddesi in der Innenstadt von Istanbul ist eine Metalltafel ins Pflaster eingelassen. Die meisten Passanten kümmern sich nicht weiter um die Tafel, die in armenischer und türkischer Sprache an Tag und Uhrzeit des Mordes an dem Journalisten Hrant Dink im Jänner 2007 erinnert. An dieser Stelle vor dem Redaktionsgebäude seiner Zeitung „Agos“ wurde Dink am helllichten Tag von einem rechtsradikalen Teenager erschossen. Nur hin und wieder bleibt ein Fußgänger an der Tafel stehen. „Schau mal, hier war das“, sagt ein junger Mann zu seinem Begleiter, bevor sie weitergehen.

Dink wurde getötet, weil er eine ehrliche Aufarbeitung der Armenier-Massaker des Jahres 1915 in der Türkei forderte. Rechtsextremisten erklärten ihn deshalb zum Staatsfeind. Bis heute weist der türkische Staat den Vorwurf des Völkermordes zurück. Dinks Nachfolger als „Agos“-Chefredakteur, Yetvart Danzikyan, ruft seine türkischen Landsleute deshalb auf, endlich die Hintergründe des möglicherweise mit Mitwisserschaft staatlicher Stellen begangenen Mordes an Dink zu beleuchten und sich den Verbrechen von 1915 zu stellen. „Es wird Zeit, dass wir damit anfangen“, schrieb Danzikyan kürzlich.

Signale der Veränderung

Zumindest die Politik will nichts davon wissen. An diesem Freitag jährt sich der Beginn der Massaker an den anatolischen Armeniern zum hundertsten Mal. Bis zu 1,5 Millionen Menschen fielen damals Morden, Hinrichtungen und Todesmärschen zum Opfer. Der Papst, das EU-Parlament, der Wiener Nationalrat und andere Akteure und Institutionen der internationalen Politik fordern die Türkei auf, sich dem dunklen Kapitel ihrer Geschichte zu stellen. Die Regierung in Ankara und Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan können ein solches Kapitel nicht erkennen. Die Türkei habe keine schwarzen Flecken in ihrer Geschichte, sagt Erdoğan.

Doch bei aller Unversöhnlichkeit gibt es Signale der Veränderung in der Türkei, die unter anderem von Erdoğan selbst ausgehen. Im Vorjahr gedachte er, damals noch als Regierungschef, erstmals öffentlich des Leids der Armenier. Kurz vor dem Armenier-Jahrestag erweiterte der 61-Jährige seinen Vorschlag zur Bildung einer unabhängigen Historikerkommission zur Völkermord-Frage um eine wichtige Komponente.

Fachleute sollen demnach untersuchen, was 1915 geschah. Im Staatssender TRT sagte er darüber hinaus, die Türkei werde sich dem Urteil der Experten beugen. Sollten die Historiker am Ende ihrer Untersuchung zum Schluss kommen, dass Türken damals Schuld auf sich geladen und „einen Preis zu zahlen“ hätten, dann werde er entsprechend handeln.

Das ist neu. Kritiker tun den Erdoğan-Vorschlag zwar als Versuch ab, auf Zeit zu spielen und die Frage einer Anerkennung des Völkermordes auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Doch so weit wie Erdoğan hat sich bisher noch kein türkischer Politiker vorgewagt. Zumindest grundsätzlich, so lautet sein unausgesprochenes Angebot, wäre die Türkei bereit, dem Vorwurf des Genozids durch die osmanische Reichsregierung ins Auge zu sehen. Zu Beginn seiner Amtszeit als Premier vor zwölf Jahren hätte Erdoğans Offerte einen Sturm der nationalistischen Entrüstung ausgelöst – nun wurde er fast kommentarlos hingenommen.

Auf den Straßen Istanbuls findet der Vorschlag des Präsidenten viel Unterstützung. „Es ist überfällig“, sagt Can Aksoy, der mit mehreren Einkaufssäcken auf dem Weg nach Hause ist. „Die Gesellschaft hat weniger Probleme mit der Wahrheit als die Politik.“ Ein anderer Passant, Haran Berbo, ist ebenfalls dafür, unabhängige Historiker untersuchen zu lassen, was 1915 eigentlich geschah. „Ich bin bereit, der Sache ins Gesicht zu schauen.“

Das wird von anderen Istanbulern unterstrichen, selbst wenn diese Bereitschaft die Möglichkeit birgt, dass die Türken schwere Verbrechen ihrer Großväter akzeptieren müssen. „Ich habe damals nicht gelebt, woher soll ich wissen, was los war“, sagt der Erdoğan-Anhänger Atilla Kocer. „Wenn die Historiker ein Urteil zugunsten der Armenier fällen, dann fügen wir uns“, fügt er hinzu. „Dann werden wir uns entschuldigen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2015)

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