Schönheit und Schrecken

Wie weit ging die Verstrickung Werner Heisenbergs und Martin Heideggers in den Nationalsozialismus? Damit beschäftigen sich zwei Bücher auf unterschiedliche Art. Jérôme Ferrari nähert sich Heisenberg literarisch, Silvio Vietta verteidigt Heidegger sachlich-philosophisch.

Die Ptolemäerspur als Gaunerzinke,/die Ratte kommt als Labsal gegen Pest./ Meuchel besingt den Mord. Spitzel locken/aus Psalmen Unzucht.“ So beschreibt Gottfried Benn nach dem Krieg in seinem Gedicht „Monolog“ die Umwertung der Werte durch die Nazis. Er war einer jener Intellektuellen, die im Juli 1932 in der NSDAP nicht die schlechteste der über 20 zu den Wahlen angetretenen Parteien sahen. „Dass die Parteiprogramme verwirklicht würden“, so Benn rückblickend, „konnte man auf keinen Fall erwarten.“ Als er im Frühjahr 1933 die berüchtigte „Antwort an die literarischen Emigranten“ schrieb, glaubte er „an eine Erneuerung des deutschen Volks, die einen Ausweg aus Rationalismus, Funktionalismus, zivilisatorischer Erstarrung finden würde“.

Auch Martin Heidegger und Werner Heisenberg hätten nie daran gedacht, ihr Volk zu verlassen. „Die ganze Summe meines Gehirns danke ich doch in erster Linie diesem Volke“, formulierte Benn in diesem Brief an die Emigranten. Alle drei gingen Anfang 1933 vom „Recht eines Volkes“ aus, „sich eine neue Lebensform zu geben“ (Benn). Alle drei hielten die Gewaltakte der SA-Horden für vorübergehende Ausschreitungen, wie sie alle revolutionären Bewegungen begleiten. Wie Benn hofften sie darauf, dass „alle Schatten, die das Zeitalter über meine Gedanken warf“, nun von einem Gemeinschaftsgefühl „meines Volkes“ vertrieben werden.

Wie war das möglich, dass hochintelligente Männer die politische Situation so verkannten und positive Erwartungen in das „neue Deutschland“ setzten? Benn hat sich sich bald in die Armee zurückgezogen, „die aristokratische Form der Emigration“, wie er meinte. Undeutlicher ist die Sache bei dem Physiker, der Hitler die Atombombe hätte bauen können, und bei dem Philosophen, der Hitlers „Herrenmenschentum“ in der abendländischen Geistesgeschichte hätte verankern sollen. Wie weit die Verstrickung der beiden mit dem Nationalsozialismus ging, damit beschäftigen sich zwei Bücher auf unterschiedliche Weise. Der mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Franzose Jérôme Ferrari geht auf literarischer Weise Heisenbergs Motiven nach, im Dritten Reich weiterzuarbeiten, der deutsche Literaturwissenschaftler Silvio Vietta verteidigt Heidegger sachlich und kenntnisreich gegen die Vorwürfe einer Nazi-Philosophie, die nach der Veröffentlichung der „Schwarzen Heften“ Heideggers im Vorjahr gegen dessen Denken erhoben worden waren.

Als Heisenberg 1925 auf Helgoland seine Matrizenmechanik entdeckte, hatte er zum ersten Mal das Gefühl, Gott über die Schulter zu schauen. So beschreibt Ferrari die Entdeckung, Heisenberg selbst formulierte: „Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen.“ Die Ungereimtheiten, die seit Einsteins Relativitätstheorie die Physik beschäftigten, wurden mit Heisenbergs Entdeckung aber eher größer als geklärt. Also begaben die talentiertesten Zauberlehrlinge, Erwin Schrödinger und Werner Heisenberg, sich zum alten Meister der Physik, zu Niels Bohr nach Kopenhagen, und stritten über die Eigenschaften des Elektrons. Bis Schrödinger zusammenbricht und Bohr zur Erholung nach Norwegen fährt. Erst dann ist Heisenberg in der Lage, auf „das Prinzip“ zu stoßen, jenes nämlich von der „natürlichen Unbestimmtheit“. Die Bahn eines Teilchens entsteht erst durch die Beobachtung und wird zugleich durch sie gestört. Mit dieser Auflösung des Kausalitätsprinzips hat Heisenberg die Hoffnung der Physik auf „die objektive Beschreibung des geheimen Grundes der Dinge“, wie Ferrari schreibt, aufgehoben. Für diese Erkenntnis von 1927 erhielt Heisenberg mit einjähriger Verzögerung den Nobelpreis für Physik 1932 zugesprochen. Und da sollte er seine Heimat verlassen?

Heisenberg hatte die Schönheit geschaut. Das Schöne aber ist (insbesondere in der Physik) oft nichts als des Schrecklichen Anfang. Es wird wohl ein Rätsel bleiben, was Bohr und Heisenberg im September 1941 besprochen haben. Gewiss ist, dass Heisenberg 1942 von Albert Speer gefragt wurde, ob die Atombombe denkbar sei, und dass er in der Endphase des Kriegs eine deutsche Kernreaktorversuchsanlage im baden-württembergischen Haigerloch geleitet hat. Ob das eine der „Inseln des Bestands“ war, die es nach Max Planck für einen Wiederaufbau nach der Katastrophe aufrechtzuerhalten gelte? Wohl kaum. An den Stumpfsinn von so etwas wie einer „deutschen Physik“ glaubte Heisenberg selbstverständlich nicht, aber er war davon überzeugt, dass Deutschland ihn brauchte.

Die Widersprüchlichkeit im Verhalten Heisenbergs löst Ferrari nicht auf; er moralisiert nicht. Er nähert sich dem Phänomen auf literarische Weise. „Sie wollten verstehen, Gott für einen Augenblick über die Schulter schauen. Die Schönheit ihres Vorhabens schien ihnen die höchste überhaupt vorstellbare“, heißt es in der Mitte des Briefromans. Von diesem Vorhaben wollte sich Heisenberg nicht durch etwas wie Politik, die unter seiner Würde war, abhalten lassen. Er hatte die Unbestimmtheit der Wirklichkeit entdeckt, er hatte die Auflösung der Weltordnung gesehen, er hatte die Entwertung der Worte erlebt – und glaubte trotzdem unverbrüchlich an ihre Magie und an jene der Heimat. Am Ende des Romans radelt Heisenberg durch das zerstörte Deutschland und begegnet am bayerischen Walchensee dem Briefschreiber, einem amerikanischen Soldaten der Alsos-Mission, deren Aufgabe es war, das deutsche Atomprogramm auszuspionieren. In Anbetracht der frühlingshaft verzauberten Landschaft fragt ihn der Physiker: „Haben Sie je Schöneres gesehen?“

Eine solche Frage hätte auch Heidegger auf seiner Hütte im schwarzwälderischen Todtnauberg stellen können. Anfang der 1930er-Jahre verbrachte er dort viel Zeit. Er wusste wenig davon, was sich auf den Straßen von München oder Berlin abspielte. Im Jahrzehnt davor hatte er das, was Jérôme Ferrari „die monströsen Anstrengungen der Moderne“ nennt, analysiert und im selben Jahr, als Heisenberg auf die Unschärferelation stieß, sein Hauptwerk „Sein und Zeit“ veröffentlicht, in dem er die „Seinsvergessenheit“ der abendländischen Metaphysik beklagte. Diese führt laut Heidegger zur Zerstreuung, Entwurzelung und Technisierung, die er als Grundübel der Moderne ausmachte. Das Da-Sein in Abgrenzung zum Nicht-bei-sich-Sein fände man, so Heidegger, im Raum des „Heimatlichen“.

Das war es also, das Einfallstor des Nazismus in die Philosophie Heideggers. „Er glaubte an eine Erneuerung der Seinsgeschichte und an die deutsche Mission dabei“, analysiert Silvio Vietta. Heidegger sah die Chance einer Revision der „quantitativ-mathematischen Welterkenntnis“, die er auf die Pythagoräer zurückführte und die den Menschen abspaltet von den Emotionen und der sinnlichen Wahrnehmung. Von Deutschland, so dachte Heidegger, könnte nun der seinsgeschichtliche Wandel ausgehen. Im Nationalsozialismus vermeinte er, darin einen Verbündeten zu haben, den er für seine Ziele einspannen könne.

Es ist, wie Vietta darlegt, unbestritten, „dass Heidegger sich 1933/34 auf eine Vielzahl von Handlungen und Redeakten eingelassen hat, die sehr unangenehme Kooperationen mit dem Dritten Reich belegen“. Ist aber sein philosophisches Denken deshalb, wie viele Kritiker nach Erscheinen der „Schwarzen Hefte“ diagnostiziert haben, genuin nazistisch? Vietta bestreitet das mit guten Argumenten. Er erläutert schlüssig, dass diese ideologische Kollaboration im Wesentlichen auf Missverständnissen beruht hat. Die Kernstücke der NS-Ideologie teilte Heidegger im Grunde nicht, ließ sich aber von deren Rhetorik blenden. Es sind etwa Begriffe wie Volk und Führer, die in der NS-Terminologie eine entscheidende, für Heidegger aber eine ganz andere Bedeutung haben.

Das keineswegs nur, aber auch von der NSDAP in der Weimarer Republik gern zitierte „deutsche Volk“ versteht Heidegger im Sinn von Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ von 1808, worin die Bedeutung einer (damals zu schaffenden) deutschen Nation aus der deutschen Sprache als einer „Ursprache“ hergeleitet wird, nicht aus einem obskuren „Herrenrassentum“. Heidegger dachte dabei an Hölderlin, nicht an Rosenberg. Auch was er unter Führung verstand, unterschied sich grundsätzlich von dem, was „der Führer“ damit verband. Unbedingter Gehorsam und bedingungslose Gefolgschaft klingen nicht durch in Heideggers Erläuterung: „Alle Führung muss der Gefolgschaft die Eigenkraft zugestehen.“ Das hört sich christlich hierarchisch an und könnte noch heute von jedem Bischof oder Abt genauso formuliert werden. Das faschistische Führerprinzip war etwas ganz anderes. Zudem hat der neue Freiburger Rektor in seiner inkriminierten Antrittsrede den Führungsanspruch der Universitäten gegenüber der Politik in Anschlag gebracht und damit die Partei in die Schranken zu weisen versucht.

Das kann man, wie Vietta es tut, unter Selbstüberhebung und Weltfremdheit eines deutschen Professors subsumieren, aber nicht, wie seine feuilletonistischen Kritiker es getan haben, als intime Verbindung zwischen Heideggers NS-Engagement und seinem Denken. Insbesondere dann nicht, wenn man den „GBZ“ (Gesamtbewandtniszusammenhang) von Heideggers Leben und Werk betrachtet. Dieser war, wie Vietta schreibt, „von tiefen Ambivalenzen geprägt“. Das betrifft vor allem auch sein Verhalten gegenüber Juden. Er sprach zwar vom „Rasseprinzip“, aber auch davon, dass die begabtesten seiner Studenten (eigentlich Studentinnen, wenn man an Hannah Arendt und Elisabeth Blochmann denkt) Juden waren. Er schrieb zwar abschätzig vom „Juden Fraenkel“ (einem Kollegen), rühmte ihn in einem Gutachten aber als „Gelehrten von seltenem Rang“. Heidegger war sicher nicht frei von antisemitischen Vorurteilen, aber mit dem biopolitischen Antisemitismus der Nazis hat weder sein Agieren noch sein Denken etwas zu tun.

Sowohl Heisenberg als auch Heidegger waren wegen ihrer Volks- und Heimatverbundenheit vom Nazismus verführbar. Spätestens ein Jahr nach Hitlers Machtergreifung hatten sie aber jegliche Illusionen verloren. Heidegger hatte erkannt, dass der Nationalsozialismus die von ihm so heftig abgelehnte Technisierung betrieb und „die scheinbare Bodenhaftung des ,Völkischen‘ eben nur Ideologie war“, wie Vietta zusammenfasste. Kurzum, er hatte die Verlogenheit der Nazi-Terminologie durchschaut.

Dass die beiden zu ihren Verirrungen öffentlich geschwiegen haben, macht sie nicht unbedingt sympathischer. Heidegger erreichte damit das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt hatte. Er wollte sich durch ein Bekenntnis seiner Schuld seine Philosophie nicht desavouieren lassen. An seiner fundamentalen Kritik an der Moderne hatte er nichts zurückzunehmen. An menschlicher Größe hat er es vermissen lassen. Aber auch für ihn gilt Benns Wort aus seiner Entschuldigungsschrift „Doppelleben“: „Immer alles gewusst zu haben, immer recht behalten zu haben, das allein ist nicht groß. Sich irren und dennoch seinem Inneren weiter Glauben schenken müssen: – das ist der Mensch.“ ■

Jérôme Ferrari

Das Prinzip

Roman. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac. 134S., geb., €20,60 (Secession Verlag für Literatur, Zürich)

Silvio Vietta

„Etwas rast um den Erdball . . .“

Martin Heidegger: Ambivalente Existenz und Globalisierungskritik. 222 S., brosch., €25,60 (Fink Verlag, Paderborn)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2015)

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