Medien schäumten über Völkermord-Aussagen aus Deutschland. Die offizielle Politik hielt sich zunächst in ihren Reaktionen zurück, um das Gallipoli-Gedenken nicht zu konterkarieren.
Istanbul. Jetzt auch noch die Deutschen. Einen „Skandal“ habe sich Joachim Gauck da geleistet, schimpfte die Onlineausgabe der türkischen Zeitung „Milliyet“ nach der Rede des deutschen Bundespräsidenten zum Völkermord an den Armeniern. Auch andere Medien kritisierten Gauck und den Berliner Bundestag, der nach einer ähnlich lautenden Erklärung des österreichischen Nationalrats ebenso klar und deutlich von einem Genozid sprach. Im Gegensatz zur Einberufung des türkischen Botschafters in Wien hielt die Türkei sich mit Reaktionen zunächst zurück: Sie wollte offenbar einer anderen Gedenkfeier nicht durch spektakuläre Proteste die Schau stehlen.
Gauck hatte in seiner Rede im Berliner Dom am Vorabend die Massaker als Völkermord bezeichnet. Er sprach von einer „genozidalen Dynamik, der das armenische Volk zum Opfer fiel“, und von „geplanten und systematischen Mordaktionen“. Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert benutzte am Freitag das Wort Völkermord.
Regierungsnahe türkische Medien wie die Zeitung „Yeni Safak“ warfen dem deutschen Präsidenten vor, sich mit „hässlichen Worten“ über das Osmanische Reich geäußert und seine Kompetenzen überschritten zu haben.
Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte bereits am Vorabend den Europäern vorgeworfen, mit der Anprangerung eines Völkermords an den Armeniern Heuchelei zu betreiben. Kein Land, das den Genozid an den Armeniern anerkenne, habe ein so sauberes historisches Zeugnis wie die Türkei, sagte er. Vizepremier Yalcin Akdoğan betonte, Länder, die von einem Völkermord sprächen, sollten zunächst einmal ihre eigene Geschichte anschauen und das, „was sie ihren eigenen Bürgern angetan haben“.
Erdoğans Ablenkungsmanöver
Der Grund für das Schweigen Ankaras lag offenkundig daran, dass Erdoğan zeitgleich mit dem Armenien-Gedenktag ein Treffen mit mehreren Dutzend Staatsgästen und dem britischen Thronfolger, Prinz Charles, zur Erinnerung an die Schlacht von Gallipoli im Ersten Weltkrieg organisiert hatte. Die Schlacht hatte mehr als 100.000 Soldaten das Leben gekostet und endete mit einer Niederlage der Ententemächte.
Erdoğans Gallipoli-Treffen war ein Versuch, die Aufmerksamkeit vom Armenier-Gedenktag und vom offiziellen Genozidgedenken in der armenischen Hauptstadt, Eriwan, wegzulenken. Türkische Nationalisten bezeichneten den Völkermordsvorwurf bei einem Protestmarsch in Istanbul als Lüge.
Doch der Gedenktag wurde nicht nur vom politischen Streit geprägt, sondern auch von Gesten der Versöhnung. So war der Istanbuler Stadtteil Kumkapi Schauplatz einer Premiere, die vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Als erstes türkisches Regierungsmitglied nahm EU-Minister Volkan Bozkır an einem Gedenkgottesdienst im armenischen Patriarchat teil. Bozkır sprach vom „Schmerz unserer armenischen Brüder“ und von einem „schlimmen Ereignis“. Zur Erinnerung an die Opfer läuteten die Glocken der Patriarchatskirche hundertmal.
Auch Erdoğan erklärte in einer Grußbotschaft an die Armenier beim Gottesdienst, er teile den Schmerz der Opfer. Die Herzen der Türken stünden den Nachfahren der osmanischen Armenier jederzeit offen, betonte er. Allerdings unterstrich Erdoğan auch, im Ersten Weltkrieg seien im Osmanenreich mehrere Millionen Menschen jeder Volkszugehörigkeit ums Leben gekommen – von einer Entschuldigung bei den Armeniern war also keine Rede.
Gemeinsames Gedenken
Die türkische Zivilgesellschaft lieferte indessen einen Beweis dafür, dass sie bei der Bewertung der Verbrechen des Jahres 1915 der starren Haltung der Regierung voraus ist. Türken, Kurden und Armenier versammelten sich gemeinsam zum Gedenken an die rund 250 armenischen Intellektuellen, die am 24.April 1915 in Istanbul verhaftet wurden und deren Tod den Beginn des Völkermords markierte. Namhafte türkische Intellektuelle drückten ihre Solidarität mit den Armeniern in einer Videobotschaft aus.
AUF EINEN BLICK
Armeniergedenken. Aus Anlass des 100. Jahrestags des Beginns der Vertreibung und systematischen Ermordung der Armenier im Osmanischen Reich fanden weltweit zahlreiche Gedenkveranstaltungen statt. Nach dem Nationalrat verurteilten auch der deutsche Präsident, Joachim Gauck, und der Bundestag den „Völkermord“ – zunächst ohne offizielle Reaktion.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2015)