Eine Illusion von Schnee

Vor Kurzem eröffnete die Schneeerlebniswelt in der Seestadt Aspern: ein garantiertes Skivergnügen für 365 Tage im Jahr. Doch bereits 1927 gab es in Österreich die erste ganzjährig nutzbare Skipiste. 150 Tonnen Kunstschnee wurden in der Halle des Wiener Nordwestbahnhofes aufgetürmt.

Skifahren ohne Schnee? Die Idee, den Wintersport von Wetterverhältnissen unabhängig zu machen, wird gerade in der Wiener Seestadt Aspern mit der Schneeerlebniswelt in die Tat umgesetzt, wo ganzjähriges Schneevergnügen geboten wird. Die Stadt Wien hat jedoch eine viel längere Tradition des Skivergnügens auf Kunstschnee vorzuweisen: Bereits im Jahr 1927 wurde die erste künstliche Wintersportanlage errichtet. Anlässlich der Eröffnung der Anlage mit dem klingenden Namen „Schneepalast“ in der Wiener Nordwestbahnhalle berichteten die Medien vom „Vorzimmer der großen Natur“.

Um das Jahr 1900 etablierte sich in Österreich eine bürgerliche Sportbewegung, die gleichermaßen Spitzen- und Breitensport förderte. Internationale Erfolge der Athletinnen und Athleten führten zu steigendem Medien- und Zuschauerinteresse und wandelten den Sport zu einem Aspekt der Alltagskultur. Sportarten wie Fußball, Radfahren, Leichtathletik und Eislaufen erfuhren enormen Zulauf. Um die Jahrhundertwende erfolgte die Gründung des ersten Skiclubs, der seinen Sitz in Wien hatte.

Die Skier waren erstmals 1873 nach Wiengekommen: Bei der Weltausstellung in der Krieau präsentierte Norwegen dieses neuartige Fortbewegungsmittel, das im 20. Jahrhundert von Wien aus seinen Siegeszug in die Alpen Österreichs feiern sollte. Ab den 1920er-Jahren erlebte der Skisport in Mitteleuropa einen enormen Aufschwung, als dieser zum Wettkampfsport avancierte.

Ob Skifahren im Winter oder Badevergnügen im Sommer, die Idee der gesundheitsfördernden Gestaltung der Freizeitaktivitäten gewann zu dieser Zeit an Bedeutung. Dieses Ziel propagierte vor allem die aus den USA stammende Wochenendbewegung.

Dagfinn Carlsen, ein gefeierter Skispringer aus Oslo, Skilehrer, Filmstar und Weltenbummler, war von den neuen Möglichkeiten des Kunstschnees höchst begeistert. In der internationalen Ski-Szene war der Norweger kein unbeschriebenes Blatt, hielt er 1926 gar kurzzeitig mit 64 Metern den Weitenrekord im Skispringen. Der Liebe wegen war Carlsen zu Beginn der 1920er-Jahre nach Wien gekommen. Der Kampfrichter des ÖSV und Sportler des Österreichischen Wintersportclubs suchte immer wieder nach neuen Herausforderungen. Kurzerhand beschloss der Wahlwiener, in seiner neuen Heimatstadt die weltweit erste permanente Halle für alpinen und nordischen Wintersport zu errichten. Ende August 1927 suchte er bei den zuständigen Stellen um die Lizenz für den Betrieb einer Kunstschneeanlage an. Einen geeigneten Ort dafür hatte er bereits im Visier, nämlich die seit 1924 leer stehende Nordwestbahnhalle im heutigen 20. Wiener Gemeindebezirk.

Waschsoda und Sägespäne

Durch das Ende der Monarchie hatten einige Eisenbahnstrecken und Bahnhöfe ihre frühere Bedeutung verloren. So auch der 1872 eröffnete Nordwestbahnhof, der Wien mit den nördlichen Kronländern Böhmen und Mähren verbunden hatte. Carlsen benötigte ein großes Gebäude, und die Bundesbahnen Österreich – so der damalige Name – freuten sich über eine geldbringende Nachnutzung der Bahnhofshalle. Für den Kunstschnee war ebenfalls gesorgt: Nachdem Carlsen mit dem Briten Laurence Clarke Ayscough, der eine schneeähnliche Substanz auf Basis von Waschsoda, gemischt mit Füllmaterial (Sägespänen oder Holzzellstoff) und Wasser, entwickelt hatte, in Kontakt getreten war, weilte dieser höchstpersönlich in Wien, um die einwöchige Lieferung von 150 Tonnen Kunstschnee, die mit Zügen von einer Chemiefabrik in Moosbierbaum direkt vor die Tore des Schneepalasts am Nordwestbahnhof gebracht wurden, zu überwachen. Das Interieur der Halle umfasste eine Sprungschanze, eine Rodelbahn und zwei Skipisten. Die Schneeflächen waren von einer Kulisse aus Fichten umrahmt, um der artifiziellen Landschaft ein Flair von „echter Natur“ zu verleihen. Der künstliche Berg bestand aus einer 64 Meter langen Holzkonstruktion, die gut 16 Meter hoch und 28 Meter breit war. Darauf waren Kokos- und Bürstenmatten angebracht, als Unterlage für die präparierten Pisten. Zudem gab es einen Zuschauerbereich mit Restaurant. Für die Finanzierung des Projekts hatte Carlsen zwei Investoren aus Österreich im Team: Das Kaufhaus Stafa, Warenhaus der Konsumgenossenschaft, und die Brauerei Puntigamer fungierten als Sponsoren.

Anfang Oktober 1927 erhielt der Norweger die Lizenz für Dagfinn Carlsen's Schneepalast – so der offizielle Titel der künstlichen Schneewelt. Am Nachmittag des 26. November 1927 wurde der Schneepalast unter Beteiligung hoher staatspolitischer Vertreter eröffnet. Bürgermeister Karl Seitz hielt die offizielle Eröffnungsrede, und auch Bundespräsident Michael Hainisch ließ sich das Spektakel nicht entgehen. Seitz freute sich in seiner Ansprache insbesondere darüber, dass der Palast der Ertüchtigung der Jugend gewidmet werden sollte. Laut zeitgenössischen Presseberichten und durch die kräftige Bewerbung im Vorfeld, die den Schneepalast als neue Sehenswürdigkeit Wiens anpriesen, war die Eröffnungsfeier gut besucht. Allerdings wurde am nächsten Tag nicht über die imposante Anlage, sondern über einAttentat auf Seitz berichtet: Als der sozialdemokratische Bürgermeister nach der Eröffnung das Gelände verlassen wollte, wurde er beim Einsteigen in seinen Wagen Opfer eines Schussattentates. Der Schütze war Richard Strebinger, Mitglied der WehrformationOstara aus dem rechtsradikalen, katholisch-konservativen Lager. Seitz blieb unverletzt, der Attentäter wurde verhaftet.

Von zehn Uhr morgens bis 22 Uhr abendswar der „1. Permanente Schneepalast der Welt“ – wie die Halle beworben wurde – geöffnet: Bei einer Raumtemperatur knapp über dem Gefrierpunkt konnte man sich schon „wie in Sibirien fühlen“, berichtete die „Arbeiter Zeitung“. Auf 3.000 Quadratmetern hatten bis zu 300 Personen gleichzeitig die Möglichkeit, Ski zu fahren und zu rodeln. Zwei Skipisten mit rund 1.200 Quadratmetern standen für Anfänger sowie Fortgeschrittene bereit. Die Rodeln für die 70 Meter lange Bahn wurden durch ein elektrisches Liftsystem auf die Bergattrappe befördert. Die Schanze war Wettkampf-Springern vorbehalten, die eine maximale Weite von 20 Metern erzielen konnten. Das namhafte Sportgeschäft Sport Lazar stellte den Besuchern vor Ort Ski- und Rodelequipment leihweise zur Verfügung. Der Eintrittspreis für zwei Stunden betrug einen Schilling und 50 Groschen, für Sportkonkurrenzen musste man einen Schilling bezahlen (zum Vergleich: eine Tageszeitung kostete damals 20 Groschen).

Kurz nach der Eröffnung zog die Presse Bilanz: War man in der „Sport-Illustrierten“ von „einer Art künstlichem Kitzbühel“ fasziniert, riet das „Kleine Sportblatt“ recht unverblümt von der Nutzung des Palastes ab: Die Anlage erfülle nicht die in sie gesetzten Erwartungen, denn der Schnee verschiebe sich nach wenigen Abfahrten. Zum Vorschein kämen die darunterliegenden bunten Matten, Stürze wären die Folge. „Das Soda wirkt auf den Körper sowie die Kleidung in denkbar ungünstigstem Sinne“, wurde unmissverständlich festgestellt: Schuhe und Kleider würden brüchig werden, die Hände runzlig und „die vom feinen Sodastaub geschwängerte Luft“ löse bei den Besuchern noch tagelang üblen Sodageschmack und einen trockenen Rachen aus.

Pädagogische „Gatschflächen“

Diese negative Publicity suchte Carlsen umgehend öffentlich mit einem Hinweis auf die Berliner Anlage zu entkräften: Berühmte Ärzte aus Berlin hätten bereits die gesundheitliche Unbedenklichkeit festgestellt. Freilich verschwieg er, dass der Kontakt mit dem künstlichen Weiß bereits in Berlin Juckreiz erzeugt hatte. Aus der löchrigen Piste machte der Norweger eine Tugend: Carlsen erklärte, dass er aus pädagogischen Gründen, einzelne „Gatschflächen“ in die Piste integrieren wolle, „um werdende Skifahrer an derartiges Terrain zu gewöhnen“.

Für Ausrüstung, Instruktionen und Verpflegung war also im Schneepalast gesorgt – was jedoch fehlte, waren Besucher. Carlsens Erfindung hatte nämlich eine große Konkurrenz – die Natur. Zu den beliebten Ski- und Rodelgebieten der Wienerinnen und Wiener zählten die Hügel um Neuwaldegg sowie die Wiesen in Hütteldorf und Pötzleinsdorf, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln ebenso erreichbar waren wie die Nordwestbahnhalle. Im Palast setzte man deshalb bald verstärkt auf die Ausrichtung von Veranstaltungen, um Publikum anzuziehen: Zu Weihnachten 1927 luden der Verein Kinderfreunde und der Wiener Arbeiterturnverein Kinder von Mitgliedern für eine Stunde zum Skifahren und Rodeln ein. Der Arbeiterturnverein führte ab dem Frühjahr regelmäßig Skisprungkonkurrenzen durch. Außerdem fand im März 1928 eine gut besuchte Messe-Sportwoche für Skibegeisterte mit Skisprung- und Skibewerben statt, die Siegreichen erwarteten Warenpreise.

Der Wiener Schneepalast war Ausdruck des Aufstrebens einer Sportart, die ab den 1950er-Jahren zum österreichischen Nationalsport erhoben wurde. Jedoch endete die Epoche der künstlichen Indoor-Skipisten zunächst so schnell, wie sie begann. Die Gemeinde Wien wollte das Projekt nur bis Mai 1928 genehmigen, da eine künftige Nutzung des Gebäudes als Bahnhof angestrebt wurde. Die kurze Lebensdauer des imposanten Schneepalasts ist auch auf die erwähnte, geringe Auslastung zurückzuführen, dem hohe Betriebskosten gegenüberstanden.

Dagfinn Carlsen verließ 1929 Wien Richtung Norwegen. 88 Jahre später ist nun der vollkommen künstliche Skispaß wiederum nach Wien zurückgekehrt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2015)

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