„Ein Europa ohne uns ist undenkbar“

Eine britische Studentin erzählt, was zwischen London und Brüssel nicht funktioniert und warum sie dennoch für die EU eintritt.

Die Presse: Warum haben Sie sich für ein Studium der Politikwissenschaften und Französisch entschieden?

Isabel Bull: Wir haben nichts über die Europäische Union in der Schule gelernt, absolut nichts. Wir haben sicher mehr über die amerikanische Geschichte gelernt als über die europäische. Daher wollte ich mehr darüber erfahren.

Was hat Ihr Interesse geweckt?

Alles, was ich bis dahin wusste, hatte ich aus meinem Elternhaus beziehungsweise mir aus Eigeninteresse angeeignet. Meine Eltern haben das aktiv gefördert, auch das Lernen einer Fremdsprache. Sie haben immer über Europa gesprochen, und wir haben unsere Urlaube auf dem Kontinent verbracht.

Wie schaut es bei Ihren Freunden aus?

Unter den Studienkollegen haben viele ähnliche Erfahrungen. Hier in Bristol haben wir auch viele Studenten etwa aus Frankreich oder Spanien, da gibt es viel Austausch. Aber für uns Briten ist es nicht der Normalfall, in einer Familie aufzuwachsen, in der beim Abendessen über die Politik der Europäischen Kommission diskutiert wird. Die große Mehrheit weiß sehr wenig.

Wie beurteilen Sie die Berichterstattung über die EU in Großbritannien?

Oft ist schon erkennbar, dass Annahmen und Vorurteile die Berichterstattung prägen. Insgesamt sind die Berichte überwiegend negativ gegenüber der EU, und es hilft sicher nicht, dass zu diesem Thema vor allem Leute das große Wort führen, die gegen die EU sind. Es gibt einfach nicht genug Leute, die etwas Gutes über Europa sagen.

Sind die Pro-Europäer nicht laut genug oder kommen sie nicht zu Wort?

Ich glaube, sie sind nicht laut genug. Allzu lang hat das politische Establishment gedacht, das Thema würde eines Tages einfach verschwinden. Die Unzufriedenheit der Menschen wurde nicht ernst genommen. Das hat sich nun geändert. Zumindest haben wir jetzt eine öffentliche Debatte.

Sehen sich junge Briten Ihrer Generation als Europäer?

Ich sehe mich selbst als Britin und Europäerin zugleich. Aber ich glaube, die Mehrheit betrachtet sich allein als britisch, auf lokaler Ebene aber nicht einmal das. Als Briten sehen sich vor allem Engländer aus dem Südosten des Landes.

Wie sehen die jungen Briten Europa?

Für viele ist es eine beliebte Urlaubsdestination, rasch und billig erreichbar. Alle lieben es, im Sommer in Spanien und Italien am Strand zu liegen und im Winter in Österreich Ski zu fahren. Viel mehr Bindung besteht nicht.

Die Zahl der jungen Menschen, die eine Fremdsprache lernen, ist rückläufig. Zieht sich Großbritannien immer mehr zurück?

Ja, das ist eine sehr gefährliche Tendenz, aber in unseren Schulen liegen die Schwerpunkte ganz woanders. Isolationismus ist sicher der falsche politische Weg. Wir stehen vor globalen Herausforderungen wie Terrorismus oder Umweltproblemen, die wir nur gemeinsam bewältigen können.

Ist die EU die richtige Organisation dafür?

Absolut. Man sollte ihr sogar mehr Befugnisse geben.

Viele Briten sehen das genau umgekehrt. Sie sagen, sie seien einer Freihandelszone beigetreten und wollten niemals eine politische Union. Ist da nicht etwas Wahres dran?

Ja. Die Menschen fühlen sich tatsächlich betrogen. Obwohl ich pro-europäisch bin, unterstütze ich daher auch eine Volksabstimmung über unsere EU-Mitgliedschaft. Zwei Generationen denken, sie sind nicht befragt worden. Wir sind eine Demokratie. Das bedeutet, das Volk entscheidet. Ich möchte, dass wir in der EU bleiben. Aber man muss den Menschen die Vorteile der Mitgliedschaft erklären, anstatt ihre Zustimmung für selbstverständlich zu nehmen.

Sehen Sie allein die Debatte über einen britischen EU-Ausstieg als destabilisierend?

Natürlich. Aber manchmal muss man die Verunsicherung etwa der Märkte in Kauf nehmen und weiter blicken, um Klarheit zu schaffen.

Beeinflusst die Krise der Eurozone die britische Sicht der EU?

Ganz sicher. Wir halten die Währungsunion für einen katastrophalen Fehler, und wer bei uns über die EU reden möchte, bekommt sofort Griechenland, Spanien oder Portugal vorgehalten.

Die EU war stets mehr als eine wirtschaftliche Vereinigung. In der Union ist Großbritannien zum Partner der ehemaligen Erzfeinde Deutschland und Frankreich geworden. Sehen Sie Frieden und Aussöhnung immer noch als Aufgabe?

Das ist vorbei. Es war sehr wichtig nach dem Zweiten Weltkrieg, aber heute haben wir andere Feinde. Wenn Großbritannien die EU verließe, würden wir wohl kaum Frankreich den Krieg erklären.


Hindert die obsessive Nabelschau Großbritanniens über seine EU-Mitgliedschaft das Land daran, einen positiveren Beitrag zu Europa zu leisten?

Ja, wir haben uns leider selbst zum Außenseiter gemacht. Es ist klar, dass wir Reformen wollen, aber wenn man etwas erreichen will, gibt es wohl bessere Wege, als den Partnern dauernd zu sagen, was uns an ihnen nicht gefällt. Und wenn wir etwas brauchen, dann wollen wir auf einmal wieder Freunde sein. Ich glaube nicht, dass das eine schlaue Taktik ist.

Was kann Großbritannien zu Europa beitragen?

Wir haben eine relativ starke Wirtschaft, London ist ein globales Finanzzentrum. Aber es ist mehr: Wir sind Europa. Europa ohne unsere Wirtschaft, Geschichte, Sprache und Kultur ist undenkbar. Alles, was für uns von Belang ist, ist auch für Europa von Belang. Wir sind ein gemeinsamer Kontinent, auf dem jeder zählt und gehört werden soll.

Glauben Sie, dass vonseiten der EU mehr getan werden muss, um die Briten zu informieren und zu überzeugen?

Sicherlich. Viele Menschen wissen wenig über die EU und sagen, es sei ihnen gleichgültig. Je mehr sie wissen, umso eher können sie sich eine Meinung bilden.

Würden Sie bei einer EU-Volksabstimmung aktiv für einen Verbleib werben?

Ja, sicher. Aber bisher ist niemand an mich herangetreten. Ob es überhaupt zu einem Referendum kommen wird, werden wir erst nach der Wahl wissen.

Was würde es für Sie bedeuten, sollte Großbritannien die EU verlassen?

Große wirtschaftliche Unsicherheit, und es würde wohl zehn Jahre dauern, bis sich die Dinge wieder eingependelt hätten. Alles wäre im Aufruhr, unsere Firmen würden auf einmal nicht mehr einem gemeinsamen Markt mit ihren wichtigsten Handelspartnern angehören. All das wird Arbeitsplätze kosten und die Zukunft für meine Generation unsicher machen.

Können Sie sich vorstellen, nicht mehr Teil von Europa zu sein?

Mir würde es sehr schwerfallen, aber ich glaube, vielen in meiner Altersgruppe wäre es ziemlich gleichgültig. Sie würden keinen kulturellen Verlust spüren, die Hauptfolgen wären wirtschaftliche.

Von den Rechtspopulisten wird Europa mit unbegrenzter Einwanderung gleichgesetzt. Ich halte diese Rhetorik, die Menschen zu Sündenböcken macht und Hass schürt, für äußerst gefährlich. In Wahrheit profitieren wir in Großbritannien von Einwanderern.

Wie würde eine EU nach Ihren Vorstellungen aussehen?

Alles wäre vollkommen demokratisch und transparent. Die Menschen würden bestimmen, mit welchen Themen sich die EU beschäftigt. Und sie würde direkt mit den Menschen kommunizieren. Der Euro, das war eine schlechte Idee. Aber das heißt nicht, dass wir nicht auf vielen anderen Feldern wie etwa in der Außenpolitik oder im Umweltschutz gemeinsam arbeiten können und sollen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

BRITAIN FASHION FOR FLOOD RELIEF
Europa

Der EU-Austritt: Wenig Potenzial, aber hohes Risiko

Schätzungen zufolge könnte der Austritt Großbritanniens BIP um 1,5 Prozent steigern – damit dies eintritt, müsste sich London allerdings aller Mindeststandards entledigen.
FRANCE HISTORY RESISTANCE DE GAULLE SARKOZY
Europa

Zwei Anläufe und viele Rückschläge

Der schwere Weg Großbritanniens in die Gemeinschaft hat einen Namen: Charles de Gaulle.
FILE BRITAIN MARGARET THATCHER
Europa

Sonderregeln, Rabatte und eine lange Hassliebe

Seit dem EG-Beitritt 1973 war es mit Großbritannien nie einfach. Wie andere kämpfte es um seine Interessen, doch es brachte sich auch um Chancen, die EU zu gestalten.
A fan of the royal family wears a union jack hat decorated with badges outside the Lindo Wing of St Mary's hospital in London
Europa

Staatstheorie: Hobbes, Locke und Smith

Ohne englische Philosophen wäre das heutige Europa nicht denkbar.
BRITAIN ECONOMY
Europa

Wirtschaftsbeziehungen mit EU sind unersetzlich

Der Großteil des britischen Außenhandels wird mit der EU abgewickelt – und das würde sich auch nach einem Austritt des Vereinten Königreichs keineswegs fundamental ändern.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.