Wirtschaftsbeziehungen mit EU sind unersetzlich

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Der Großteil des britischen Außenhandels wird mit der EU abgewickelt – und das würde sich auch nach einem Austritt des Vereinten Königreichs keineswegs fundamental ändern.

London. Obwohl Großbritannien mit einer möglichen Volksabstimmung über den Verbleib in der EU vor der wohl wichtigsten Frage der vergangenen 30 Jahre steht, sind gesicherte Fakten zu diesem Thema kaum zu bekommen. Sowohl Befürworter als auch Gegner der Mitgliedschaft in der EU scheinen nach dem Winston Churchill zugeschriebenen Motto zu operieren: „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.“ Mit einer Fülle von Studien belegen beide Seiten vor allem das, was sie immer schon zu wissen glaubten.

In dieser Polyfonie erarbeitete das britische Unterhaus eine Studie „zur Unterstützung der Abgeordneten in Wahrnehmung ihrer parlamentarischen Pflichten“, um ein paar Fakten klarzustellen. Zum Beispiel: Das Vereinigte Königreich exportierte 2013 Waren und Dienstleistungen im Wert von 155 Milliarden Pfund (215 Milliarden Euro) in die EU. Das entsprach 50,5 Prozent aller britischen Ausfuhren. Zugleich stellten Importe aus der EU 53,1 Prozent der Einfuhren dar und beliefen sich auf einen Wert von 221 Milliarden Pfund. Die EU ist der größte Handelspartner Großbritanniens.

„Die Hälfte unseres Außenhandels geht in die Union, und das aufs Spiel zu setzen, wäre ein gewaltiges Risiko“, sagt Lucy Thomas, Sprecherin der proeuropäischen Interessengruppe Business for New Europe im Gespräch mit der „Presse“. „Stimmt so nicht“, erwidert der EU-kritische Thinktank Open Europe: „Im vergangenen Jahrzehnt hat der Anteil der Exporte in den Rest der Welt bedeutend zugenommen“, heißt es in der Studie „What if...?“ über die möglichen Folgen eines britischen Austritts aus der Union. Die Autoren betonen zudem, dass die USA der mit Abstand größte bilaterale Handelspartner Großbritanniens seien und im Zuge der Globalisierung weltweit Handelstarife verschwinden, womit ein zentraler Vorteil des gemeinsamen EU-Marktes an Bedeutung verliere. „Die Stagnation führt zu einem Bedeutungsverlust.“

Die britische Wirtschaft ist in unterschiedlichem Ausmaß im Export mit der EU engagiert: 35 Prozent der in Großbritannien hergestellten Autos, 56,6 Prozent aller Chemiewaren, 44,6 Prozent der Erzeugnisse der Luftfahrtindustrie, 30,7 Prozent des Maschinenbaus und 60,5 Prozent der Lebensmittelindustrie gehen an europäische Partner. Im Außenhandel mit Gütern machte Großbritannien 2013 ein Defizit von 66,4 Milliarden Pfund (nur in der Luftfahrtindustrie verbuchten die Briten ein Plus). EU-Gegner wie Democracy Movement Global Britain schließen: „Das beweist, dass nach einem EU-Austritt die andere Seite mehr Interesse als wir hätte, ein Freihandelsabkommen abzuschließen.“

Im Dienstleistungsbereich haben die Briten hingegen gestützt auf ihren Finanzsektor einen Überschuss: Exporten von 72,8 Milliarden Pfund standen 2013 Importe von 62,5 Milliarden Pfund gegenüber. Das Clearinghaus LCH.Clearnet in Londons City wickelt jeden Tag 250 Milliarden an Eurogeschäften ab und hält mit Positionen von vier Billionen Euro mehr als das BIP Deutschlands. Über 250 ausländische Banken haben einen Sitz in London und beschäftigen 160.000 Menschen. Als der EuGH einer Klage Großbritanniens gegen eine Verordnung der EZB stattgab, die Euro-Finanzgeschäfte nur in Mitgliedstaaten der gemeinsamen Währung zulassen wollte, jubelten nicht nur die Briten in London.

Umstritten ist die Zahl der mit der EU-Mitgliedschaft verbundenen Arbeitsplätze. Immer wieder zitiert wird eine Studie des National Institute for Economic and Social Research von 1999 (!), in der es hieß: „Bis zu 3,2 Millionen Arbeitsplätze sind mit der Ausfuhr an EU-Staaten verbunden.“ Obwohl der damalige Institutsdirektor, Martin Weale, die Interpretation der Untersuchung, dass „drei Millionen Jobs von der EU-Mitgliedschaft abhängig“ seien, als „reinen Goebbels“ bezeichnete, führen Politiker sie ins Treffen: „Eine Untersuchung des Schatzkanzleramts zeigt, dass 3,3 Millionen Jobs mit Großbritanniens Platz in Europa verbunden sind“, so Finanzstaatssekretär Danny Alexander.

„Gut, Klarheit zu schaffen“

Leichter messbar sollte dagegen der Zufluss von ausländischen Direktinvestitionen sein. Nach der Parlamentsstudie stellten im Jahr 2012 die EU-Partner rund die Hälfte des Gesamtbestands an Direktinvestitionen in Großbritannien (467 Milliarden von 936 Milliarden Pfund). 49 Prozent des Neuzuflusses im selben Jahr kamen aus EU-Staaten, während 47 Prozent der britischen Auslandsinvestitionen in EU-Staaten erfolgten. Im Gesamtbestand an ausländischen Direktinvestitionen lag Großbritannien 2013 weltweit an zweiter Stelle hinter den USA. Im selben Jahr flossen 37 Milliarden Dollar (34,5 Milliarden Euro) nach Großbritannien, während es nach Regierungsangaben für Deutschland 26,7 Milliarden Dollar und Frankreich nur 4,8 Milliarden Dollar waren.

Das ist umso bemerkenswerter, als David Cameron Anfang 2013 die Volksabstimmung über den Verbleib Großbritanniens in Aussicht stellte. Während Proeuropäer wie der frühere Regierungschef Tony Blair ein Referendum als Spiel mit dem Feuer kritisieren, meint Stephen Booth, Chefökonom von Open Europe zur „Presse“: „Bisher gibt es keine Hinweise in den Daten, dass die Volksabstimmung destabilisierend wirkt und Investoren abschreckt. Man könnte sogar das Gegenteil behaupten: Das Thema EU-Mitgliedschaft wird nicht einfach verschwinden und da ist es gut, Klarheit zu schaffen.“

Sollten die Briten wirklich aus der EU austreten, könnten sie sich wenigstens den Mitgliedsbeitrag sparen. Auch nach Abzug des legendären Britenrabatts, den Premierministerin Margaret Thatcher („I want my money back“) 1984 den anderen Europäern entrissen hat, ist London Nettozahler und zahlte zuletzt 13,8 Milliarden Pfund in die Brüsseler Kassen ein. In der Budgetvorschau sind bis 2018/19 insgesamt 45,8 Milliarden Pfund für EU-Beträge rückgestellt.

Ein Austritt muss freilich keinesfalls kostenfrei sein. Das Institute of Economic Affairs (IEA) macht in einer Studie aus seiner Sympathie für ein Freihandelsmodell zwar kein Geheimnis, weist aber auch darauf hin, dass Staaten wie Norwegen oder die Schweiz Beiträge an die EU leisten, ohne bei Entscheidungen ein Mitspracherecht zu haben.

Die Entscheidungsfreudigkeit insbesondere der Kommission, die sich in einer Vielzahl von Vorschriften ausdrückt, ist den Briten ein Dorn im Auge. Dass eine ungewählte Institution „75 Prozent unserer Gesetze bestimmt“, stört auch Briten, die dieser Aussage des Rechtspopulisten Nigel Farage nicht glauben wollen. Robert Ouds vom IEA hat daher nachgezählt: Nach seinen Angaben waren 2013 8937 EU-Verordnungen, 1953 EU-Richtlinien, 15.561 Entscheidungen, 4733 internationale Abkommen, 52.000 EU-Standards und 11.961 Urteile des EuGH in Kraft.

Die British Chamber of Commerce schätzt, dass EU-Vorschriften und ihre Umsetzung die Wirtschaft jedes Jahr 7,5 Milliarden Pfund kosten. Die von der Regierung 2013 durchgeführte Überprüfung der Komptenzverteilung zwischen Großbritannien und der EU (die mit ebenso großem Aufwand versteckt wird, seit sie ein überwiegend positives Urteil über die Mitgliedschaft erbrachte) ergab zum Thema „Gemeinsamer Markt“, dass „Ausmaß und Inhalt der regulatorischen Belastung als eine der größten Sorgen“ von Unternehmen genannt werden.

Dennoch würde es selbst bei einem EU-Austritt nicht zu einem „Fegefeuer der Vorschriften“ (Cameron) kommen. Wie Open Europe feststellt, sind die meisten EU-Vorschriften heute britisches Recht und in vielen Bereichen von Landwirtschaft bis Klimaschutz im nationalen Interesse. Der Austritt aus der EU, meint Booth, sei nicht das Hauptthema: „Entscheidend ist, was man dann daraus macht.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2015)

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