Aufregung über Sexualerziehung ist völlig unnötig

Unterstellungen helfen beim Thema Sexualerziehung an den Schulen nicht weiter.

Derzeit flammt wieder heftige Empörung über unsere ohnehin kaum vorhandene Sexualerziehung an Schulen auf. Ich selbst habe das schon in den 1980er-Jahren als Mitautor des zu Unrecht berüchtigten Sexkoffers erlebt, der auch damals schon für aufgeregte Kritikerinnen und Kritiker den Untergang des Abendlandes einzuläuten drohte.

Der Grundsatzerlass „Sexualerziehung an den Schulen“ wird seit 1971 immer wieder reformiert, ohne dass er bewirken würde, dass Sexualerziehung an Schulen auch stattfindet – was ich auch gut finde: Lehrerinnen und Lehrer, die zu diesen Themen weder unterrichten wollen noch es mangels Ausbildung können, sollten dazu nicht verpflichtet werden.

Der von Gudula Walterskirchen in ihrem „Quergeschrieben“ vom 20.April schlechtgeredete Lovetour-Bus hingegen ist eine Einrichtung mit gut ausgebildeten „schulfremden“ Fachleuten, die umfassend informieren. Zu „schlimmsten Befürchtungen“ bieten diese Profis keinerlei Anlass. Auch die Eltern wird niemand Fachkundiger übergehen, wie unterstellt wird, vielmehr geht es um Vermittlung von Inhalten, die die Eltern nicht geben können oder die Jugendliche lieber nicht von den Eltern haben wollen.

Der zuständigen Ministerin kann man vieles vorwerfen, nicht aber, dass die Schule bei der Vermittlung von unverrückbaren „Werten“ zurückhaltend sein sollte: Sie können die Gefühle Heranwachsender, die diesen Werten nicht entsprechen, verletzen und sie in eine Randposition bringen.

Normative Sexualpädagogik

Alle bisherige Sexualpädagogik, auch die „emanzipatorische“, war stark normativ und wertend und somit problematisch. Davon müssen wir wegkommen. Eine „Sexualpädagogik der Vielfalt“ dagegen kann und soll zur Toleranz gegenüber vielfältigen Formen sexuellen Erlebens führen. Stünde dahinter eine „Ideologie des Gender-Mainstreamings“, die alle biologischen Unterschiede zugunsten einer „rein sozialen“ Geschlechtlichkeit leugnet, hätten mich die Gegner in diesem Punkt an ihrer Seite. Deshalb aber alles, was von „gleichgeschlechtlichen Beziehungen, Anerkennung der Vielfalt von Beziehungen und Lust beim Berühren des eigenen Körpers“ handelt, zu verteufeln, ist nicht nachvollziehbar.

Kritische Reflexion ist nötig

Bei Sexualität geht es nun einmal „um ,Lust‘ und ,Genuss‘“, und dass im Text nicht von „Liebe und Familie“ die Rede ist, hat man uns beim Sexkoffer auch schon unterstellt, obwohl diese Begriffe zigmal vorkamen. Dass „das eigene Wohlbefinden“ und „Körperkompetenz“ etwas Wichtiges sind, kann auch niemand als verwerflich empfinden. Bei Themen wie „Sexualität und Medien“ sowie „Pornografie und Sexting“ (Verschicken erotischer Fotos) wiederum bedarf es angesichts der Überschwemmung mit sexuellen Blödheiten in den Medien dringend kritischer Reflexion. Mit „Also Porno schauen in der Schule?“ hat das – außer böswilliger Unterstellung – nichts zu tun.

Es ist zudem empirisch erwiesen, dass gut informierte Kinder gegen Missbrauch und sexuelle Annäherung besser geschützt sind. Dass aber diese Art Sexualerziehung „an Kindesmissbrauch grenze“, ist einfach Unsinn und – was schwerer wiegt – eine Verharmlosung des manifesten Kindesmissbrauchs an unaufgeklärten Kindern.

Aber keine Sorge, schulische Sexualerziehung wird weder öfter noch anders betrieben werden als bisher. Das ist mein Vorwurf an die Ministerin: Wer Lehrkräfte zu etwas verpflichten will, muss sie ausbilden, und sie nicht, wie Freud schon sagte, in der Badehose auf Nordpolexpedition schicken.

Josef Christian Aigner ist Professor für Psychoanalytische Pädagogik und Psychosoziale Arbeit an der Universität Innsbruck und leitet dort die Universitätslehrgänge „Sexualberatung“ und „Sexualtherapie“.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.04.2015)

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