Ungarns Premier will die Todesstrafe „auf der Tagesordnung“ halten. Mit seiner Äußerung stößt er erneut eine Debatte über die Kompatibilität seiner Partei mit europäischen Werten an.
„Man muss den Verbrechern klarmachen, dass Ungarn vor nichts zurückschreckt – und die Todesstrafe auf der Tagesordnung behalten.“ Es ist nicht das erste Mal, dass Ungarns rechtsnationaler Regierungschef, Viktor Orbán, seine europäischen Partner mit Drohungen provoziert, deren Umsetzung einen klaren Bruch von EU-Recht zur Folge hätte: Entsprechend groß war der Unmut über die Aussagen des unberechenbaren Fidesz-Chefs am gestrigen Mittwoch im Straßburger EU-Parlament – und das über Parteigrenzen hinweg.
ÖVP-Delegationsleiter Othmar Karas, zu dessen Fraktion, der EVP, auch der Fidesz gehört, zeigte sich entsetzt: „Die Todesstrafe steht in krassem Widerspruch zu europäischen Werten, zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zum EU-Recht“, teilte der ÖVP-Delegationsleiter mit. „Wer sie nicht ablehnt, stellt eine historische Errungenschaft und einen zivilisatorischen Grundkonsens Europas infrage.“ Auch für SPÖ-Delegationsleiter Jörg Leichtfried ist es „völlig inakzeptabel, so etwas wie die Todesstrafe auch nur anzudenken“, wie er der „Presse“ sagt. Dies sei ein „Rückfall in die Barbarei“. Die S & D-Fraktion erwartet nun einen Ausschluss des Fidesz aus der EVP.
So weit aber dürfte es nicht kommen: EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU) hat lediglich angekündigt, er wolle mit Orbán ein klärendes Gespräch führen. Weber gegenüber der „Presse“: „Die Todesstrafe gehört in der EU nicht nur wegen der Grundrechtecharta zum Glück der Vergangenheit an. Dies ist nicht verhandelbar.“ Zu einem möglichen Ausschluss des Fidesz aus der Parteienfamilie wollte er nicht Stellung nehmen.
Im Reformprogramm der EVP aus dem Jahr 2011 wird die Todesstrafe ausdrücklich verneint und auf die EU-Grundrechtecharta verwiesen. Dort heißt es in Artikel 2: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden.“ Würde Ungarn tatsächlich die Todesstrafe einführen, müsste Orbán aber nicht nur mit weiteren Problemen in der EVP, sondern auch mit einem Ausschluss oder zumindest einer Suspendierung der EU-Mitgliedschaft rechnen. Artikel 7 des EU-Vertrags legt nämlich fest, dass gegen einen Mitgliedstaat, der die Grundwerte der Union in schwerwiegender Weise verletzt, ein Sanktionsverfahren einzuleiten ist. „Kein Land, das die Todesstrafe hat, kann Mitglied der Europäischen Union werden“, stellte ein EU-Kommissionssprecher am Mittwoch fest.
Innenpolitische Motivation
Dass Orbán der Todesstrafe ausgerechnet jetzt etwas abzugewinnen scheint, kommt nicht von ungefähr: Nach Ansicht von Beobachtern hängen die Aussagen direkt mit der Nachwahl im Bezirk Tapolca vom 12. April zusammen, bei der Orbáns Partei, Fidesz, von der rechtsextremen Jobbik geschlagen wurde – mittlerweile liegt Jobbik in Meinungsumfragen regelmäßig auf Platz zwei hinter der Regierungspartei, was Ungarn-Experten vermuten lässt, dass Orbán nun versuchen werde, sich bei der Wählerschaft der Rechtsextremen anzubiedern. Orbán hatte sich zum Mord an einer 21-Jährigen geäußert und dabei die Todesstrafe für derartige Gewaltverbrechen in Betracht gezogen.
Doch der verbale Ausritt des ungarischen Premiers ist nur die jüngste Kontroverse – seit seinem Amtsantritt im Jahr 2010 legt sich Orbán in regelmäßigen Abständen mit Andersdenkenden an. So nannte er etwa bei einem Auftritt im benachbarten Rumänien im Juli 2014 China und Russland als seine politischen Vorbilder und die Schaffung einer „illiberalen Demokratie“ (was de facto ein Widerspruch in sich ist) als Fernziel. Von Nato und EU, also jenen transnationalen Organisationen, denen Ungarn angehört, hält der Premierminister denkbar wenig: „Die transatlantische Welt ist moralisch am Ende“, sagte er im Vorjahr. Von einem Parteikollegen, der im vergangenen Dezember laut über zwangsweise Drogentests für Jugendliche nachgedacht hatte, distanzierte sich Orbán immerhin.
Dass Ungarn international zunehmend isoliert ist, steht außer Frage. Der sichtbarste Beweis dafür ist das Einreiseverbot für sechs Gefolgsleute Orbáns – unter ihnen die Leiterin der ungarischen Steuerbehörde –, die die US-Regierung im Vorjahr verhängt hatte. Washington wirft den Personen korrupte Machenschaften vor, die US-Firmen geschädigt hätten. (la, aga, wb)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2015)