Die militärische Auseinandersetzung endete in Europa am 8. Mai 1945. Doch die Zeit unmittelbar danach mit ihren bedrückenden moralischen Nachwehen verdient den Namen „Nachkriegszeit“ noch nicht.
„Niederlage, Befreiung, Neubeginn“, ein schöner, ein einleuchtender Dreiklang ist das, die aktuelle Berliner Ausstellung im Deutschen Historischen Museum zum Jahr 1945 trägt diesen Titel. Damit wird ein 8. Mai 1945 evoziert, an dem die Menschen auf der Straße tanzten und die Glocken läuteten, sofern die Kirchtürme nicht in Schutt und Asche lagen. „Neubeginn“: Damit wird ein Blick zurück entworfen, der von der Erfahrung des gelungenen Wiederaufbaus und Wirtschaftswachstums der Jahre nach 1950 determiniert wird. Doch für Millionen von Europäern war der 8. Mai 1945 kein Tag der Freude, egal ob sie auf der militärischen Sieger- oder Verliererseite standen. Es war ihnen nicht zum Feiern zu mute, weil sie ihre Männer oder Söhne verloren hatten, weil sie von Hunger und Vertreibung bedroht waren, weil sie in dem verwüsteten Europa keine Chance auf Überleben sahen.
Das Ende der militärischen Gewalt brachte noch keinen Frieden, der 8. Mai war kein „Happy End“ und keine „Stunde Null“, jetzt begann die Phase der Kollektivrache, der Umverteilung, der Säuberungen, der Volksgruppenkonflikte, der Massenvergewaltigungen. Der britische Historiker Keith Lowe, der den „Wilden Kontinent“ von 1945 beschreibt, findet dafür ein einprägsames Bild: Der Zweite Weltkrieg sei wie ein Supertanker auf hoher See erst lange nach dem Maschinenstopp im Mai 1945 zum Stillstand gekommen (für viele Menschen in Osteuropa hat das bis 1989 gedauert).

Die Waage der Moral war gekippt
Die „Nachkriegszeit“ verdient zunächst ihren Namen noch nicht. Ein Krieg, der mit so großer Brutalität geführt wurde, konnte nicht ohne brutale Vergeltung enden. Mord war im Krieg zu etwas Alltäglichem geworden, auf der Seite verbrecherischer Regime und auf der anderen Seite, wo er als Widerstand legitimiert wurde, man gewöhnte sich daran, und so zerstörte die alltägliche Gewalt die Vorstellung einer alle Menschen verbindenden Humanität. Viele hatten sich an das Stehlen und Plündern gewöhnt, es war ihre Überlebenshilfe geworden. Die Waage der Moral war gekippt, über Nacht konnte das Gleichgewicht nicht hergestellt werden.
In den befreiten Ländern standen sich nun Täter und Opfer Auge in Auge gegenüber, die Gequälten und Geschundenen und ihre Tyrannen. Das elementare Bedürfnis nach Rache und Vergeltung brach sich Bahn. Im befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen wurde eine Gruppe deutscher Krankenschwestern von den Briten abkommandiert, um sich um die Schwerstkranken zu kümmern. Sobald die Schwestern die Station betraten, stürzten sich die Siechen, darunter Sterbenskranke, mit Messern, Gabeln und Instrumenten aus den Medizinschränken auf die Schwestern und stachen auf sie ein. In den einst besetzten Gebieten wie Frankreich wurden Frauen, die Beziehungen mit deutschen Soldaten gehabt hatten, mit geschorenem Kopf und nackt durch die Gassen gejagt. In Norwegen überlegte man, Kinder, die einen deutschen Vater hatten, nach Australien zu deportieren.
In einem KZ bei der Stadt Budweis wurden nun Deutsche interniert und von tschechischen Kommandanten auf den Appellplatz geschickt und schikaniert, am Haupttor stand: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Eine Berliner Journalistin schrieb in ihr Tagebuch: „Hätten drei Tage Frist zwischen Zusammenbruch und alliierter Eroberung gelegen, Tausende und Abertausende vom Nazismus geschundene Deutsche hätten sich ihre Feinde vors Messer geholt.“

In Osteuropa übernahmen die Sowjets die bestehenden Lager und Gefängnisse und füllten sie neu, oft mit denselben Insassen wie zuvor. Ein sowjetischer Offizier kommentierte die massenhaften Vergewaltigungen deutscher Frauen mit dem Satz: „Im ersten Hochgefühl des Sieges hat es unseren Jungs zweifellos eine gewisse Befriedigung bereitet, diesen Herrenvolk-Weibern einmal gründlich einzuheizen.“ Es ist verständlich, dass in den ritualisierten Erinnerungsfeiern der Gegenwart diese alttestamentarischen Rachegefühle und bedrückenden moralischen Nachwehen des Kriegs wenig thematisiert werden.
Jubel in London und Paris
Gejubelt haben vor allem die Jungen, denen sich eine Zukunft auftat und die am 8. Mai die Plätze der großen Städte füllten: Auf dem Trafalgar Square bei Churchills Rede, die BBC-Hörer in der ganzen Welt verfolgten, auf der Place de la Republique in Paris, wo man einen ausnahmsweise lächelnden Charles de Gaulle sehen konnte, im Konfettiregen auf den amerikanischen Straßen.

Doch man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die Freude nicht überall gleich war. Keinen Jubel gab es bei den Menschen, die zwischen den Ländern, deren Grenzen sich aufgelöst zu haben schienen, herumirrten und keine Gemeinschaft mehr vorfanden, der sie sich anschließen hätten können. Der Krieg hatte sie auf die Straße geworfen, sie hatten keinen Gedanken an Wiederaufbau, sondern empfanden ihre Zeit als Abstieg in die Anarchie. 12 Millionen vertriebene Deutsche wurden zur Umsiedlung gezwungen, auch Polen, Tschechen, Slowaken, Ukrainer, Weißrussen, Litauer, Ungarn mussten sich an fremden Orten neue Existenzen aufbauen.
1,6 Millionen Vertriebene in Österreich
In Österreich standen einer Bevölkerung von sechs Millionen 1,6 Millionen Vertriebene, „displaced persons“, NS-Zwangsarbeiter gegenüber. Für die überlebenden Juden war die Rückkehr in die entvölkerten Regionen Osteuropas, wo sie gelebt hatten, eine furchtbare Erfahrung. Als besonders bedrückend wurden die zerstörten Städte empfunden, deren Schutthaufen und Stahlskelette einen apokalyptischen Anblick boten. Der Auschwitz-Überlebende und Schriftsteller Primo Levi empfand beim Anblick der Ruinen Wiens das „drohend lastende Gefühl eines unheilbaren und endgültigen Übels... ein Wundbrand und Same künftigen Unheils.“

Die institutionellen Strukturen waren in jener Region, die heute als eine der politisch stabilsten und ökonomisch potentesten der Welt gilt, teilweise zusammengebrochen, ein gedeihliches Nebeneinander von bis aufs Blut verfeindeten Nachbarn wie Deutschen und Polen war schwer vorstellbar. Die Voraussetzungen für das Neuentstehen von „Zivilisation“ schienen angesichts von Hunger und Feindschaft nicht gegeben, zu wenig verheilt waren auch die Narben von Niederlage, Verrat, Kollaboration.
Der europäische Nationalismus war diskreditiert, die Welt, wie sie vor den Bombennächten, Deportationen und Leichenbergen existiert hatte, wiederherzustellen, war für viele ein sehnlicher und verstehbarer Wunsch, doch der Weg zum früheren Zustand, zur Welt davor, war nicht mehr begehbar. Es war eine Illusion zu glauben, dass es eine Rückkehr zur „Normalität“, eine Heimkehr geben könnte. Die neuen Leitbilder für die Überwindung der Krise kamen für Europa aus den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, die ihre militärische bzw. wirtschaftliche Überlegenheit ausgespielt hatten und nun mit ihren Ideen und Idealen, aber auch ökonomischen und machtpolitischen Interessen nach Europa stießen.
In Ländern wie Österreich kam es nicht zu der beschriebenen Gewalteskalation, das große Leiden der Verfolgten rief Irritation, vielleicht Schuldgefühle hervor, doch die Menschen wollten, dass auch ihr eigenes Leid zur Kenntnis genommen werden sollte und reagierten frostig gegenüber jüdischen Überlebenden: „Das Leben hier war auch nicht einfach.“ Primo Levi hat sich geirrt: Die Ruinen wurden nicht „Same künftigen Unheils“. Als das Überleben gesichert war, begannen die Menschen ihr Leben neu zu ordnen, die Traumata zu bewältigen, Politik und Gesellschaft standen vor einem Neuanfang.
Doch die Jahre des Kriegs blieben für eine ganze Generation Bezugspunkt ihrer Lebensgeschichte. Die nationalsozialistische Weltanschauung verlor in Deutschland und Österreich langfristig ihre gesellschaftliche Basis und konnte sich nicht wieder etablieren. Kritische Reflexion und Empathie für die ermordeten Opfer rückten in beiden Ländern erst später in den Mittelpunkt. Es dauerte, bis der Supertanker „Zweiter Weltkrieg“ wirklich zum Stillstand gekommen war.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2015)